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Zwei Begebenheiten der Demokratie

Ich habe bestimmte Vorstellungen von Demokratie, oft sind es Ideale. Ein Ideal betrifft auch mich. Wie verhalte ich mich idealerweise in der Demokratie? Worauf höre ich? Welche Sätze sage ich? Was triggert mich? Und dann kommt der Moment, in dem diese Vorstellungen auf die Wirklichkeit treffen.

Foto: Stefan Petermann

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Stefan Petermann

Am 31. Januar 2024 war ich im Thüringer Landtag. Eine Partei hatte für die 126. Plenarsitzung kurzfristig das Thema »Remigration aus Thüringen starten anstatt verteufeln« auf die Tagesordnung setzen lassen. Ich war zwei Stunden vor Sitzungsbeginn da. So erlebte ich mit, wie Mitarbeiterinnen den Saal vorbereiteten. Sie wischten Tische der Abgeordneten, sie überprüften die Funktionsfähigkeit der Mikrofone, sie legten OP-Masken an den Plätzen aus, sie desinfizierten. Journalistinnen führten sie auf Plätze. Sie informierten vorab, sie gaben Blätter mit Hinweisen aus, sie kümmerten sich, sie organisierten.

Ich verstand: Das war ein altes Haus. Hier hatten sie schon viele Abgeordnete gesehen, viele Ministerinnen, einige Regierungen. Dieses alte Haus hatte Rituale gefunden und Strukturen geschaffen. In diesen Strukturen fand der 31. Januar 2024 statt. Nicht umgekehrt. Nicht die Debatte über Remigration bestimmte das Ritual, sondern das Ritual bestimmte, wie über Remigration gesprochen wurde. Und ich verstand auch: Was die Mitarbeiterinnen taten, war nicht politisch. Was sie taten, taten sie, weil es bisher so gewesen war. Sie hatten am 30. Januar desinfiziert und sie würden es auch am 1. Februar wieder tun. Sie bereiteten die Bühne für die, die gewählt waren, auf dieser Bühne zu stehen. Was auf dieser Bühne gesagt wurde, konnte sich ändern. Die Bühne aber, die blieb.

Zumindest war das ein demokratisches Ideal.

Auftreten

Es war interessant zu sehen, wie die Abgeordneten den Saal betraten. Wann sie betraten. Manche kamen sehr zeitig, manche erst knapp vor Beginn. Manche schüttelten viele Hände, andere schlichen zu ihrem Platz, wurden geradezu gemieden. In der Mitte des Saals hatten sich die Reporter der visuellen Medien versammelt. Sie richteten ihre Objektive auf Ministerpräsident, Ministerinnen, Oppositionsführer, ehemaligen Ministerpräsident, beschafften sich so die Aufnahmen, die später die gesprochenen Worte der Protagonisten bebildern sollten.

Dann also begann die Debatte. Das große Thema, das Thema dieser Tage, sollte erst später verhandelt werden. Zuerst ging es um »Respekt und Unterstützung für unsere Thüringer Landwirte und Spediteure – Bezahlbare Versorgung für Bürger und Wirtschaft sichern«, es ging darum, »Die Bauwirtschaft entfesseln, bürokratische Hemmnisse in Thüringen beseitigen«. Ich hörte zu. Vielleicht hatte ich auch gedacht, dass der Zweck des Sprechens darin bestand, vor anderen Parlamentarierinnen Argumente vorzutragen, damit sich ein Meinungsbild formen konnte und man gemeinsam zu Beschlüssen fand, welche die Gedanken der Anderen berücksichtigte.

Worte

Das war natürlich nicht immer genauso. Standpunkte standen fest, Abmachungen waren getroffen. Wer hier überzeugt werden sollte, war auch ich. Waren die auf den Zuschauerplätzen. Die vor dem Stream. Mit den Wortbeiträgen sollte meine Meinung gebildet werden, sollten mir Argumente vorgetragen werden, sollte meine politische Fantasie angeregt werden.

Ich überlegte, welche von den vielen gesprochenen Worten nach außen dringen würden. Überlegte, wer von den Bürgerinnen und Bürgern sich den Livestream der Aktuellen Stunde ansehen und sich mit den vorgetragenen Argumenten auseinandersetzen würde. Überlegte: Wenn die Aufgabe des Journalismus’ auch darin bestand, komplexe Sachverhalte verständlich zusammenzufassen für jene, die keine Zeit haben, sich intensiv in ein Thema einzuarbeiten und beispielsweise tagsüber dem Livestream einer politischen Debatte zu folgen; wie viele Sätze jeder Partei würden heute in regionalen oder gar überregionalen Kanälen erscheinen? Wie würden diese Sätze das Komplexe der vielen Sachverhalte wiedergeben? Und noch einmal die Bürgerinnen und Bürger: Wie viele Minuten ihres Tages würden sie aufwenden, um sich mit dem für sie Zusammengefassten zu beschäftigen?

Emotionen

Die Fragen, die ich mir stellte, beinhalteten keine Vorwürfe; weder an die Politik noch an die Medien noch an das Volk. Es waren Verständnisfragen. Danach, wie Informationen sich eigentlich verteilen. Ich merkte, wie ich immer mal wieder wegnickte. Die Reden waren mehrheitlich eher sachorientiert, oftmals voller Details, die ich nicht einordnen konnte. Es war auch mühsam, den Ausführungen zu folgen. Nur ab und an schreckte ich hoch. Nach einer Weile begann ich mich zu fragen, wann das eigentlich geschah. Wann wurde in diesen komplexen Reden mein Interesse geweckt?

Bald verstand ich: Wenn es um Emotionen ging. Wenn ein Redner einen anderen anging. Wenn zugespitzt wurde. Wenn Personen benannt wurden. Wenn Abgeordnete demonstrativ auf ihre Handys schauten. Wenn zustimmend auf Tische geklopft wurde. Wenn dazwischengerufen wurde. Wenn es laut wurde. Eigentlich hörte ich immer dann genauer zu, wenn das Sachliche verlassen wurde. Ich schämte mich dafür und versuchte, mich auf das Sachliche zu konzentrieren. Es forderte Kraft, die ich nicht immer hatte.

Lost in Democracy

Ich erinnerte mich. Zwei Wochen zuvor hatte ich in einer Kunstgalerie eine Ausstellung über Demokratie besucht. Verschiedene Künstlerinnen und Künstler hatten sich auf unterschiedliche Weise der Frage genähert: »Was ist los mit der Demokratie? Mit ihren Krisen und Machtgebaren, ihrer Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit, ihren Verwerfungen und Wertevermittlungen?«

Gleich am Eingang der Ausstellung war eine menschengroße Tafel aufgestellt. Darauf stand: Demokratie ist ... Die drei Punkte luden zum Mitmachen ein. Viele hatten mitgemacht und mit Filzstiften unterschiedlicher Farben daruntergeschrieben: »Vielfalt der Stimmen«, »Kompromisse finden«, »respektvolle Streitkultur«, »Gleichberechtigung«, »Verantwortung«, »eine lohnenswerte Herausforderung«, »wenn du sagen darfst, dass du nichts mehr sagen darfst« etc.

Es war seltsam. Obwohl ich das Meiste von dem Geschriebenen ähnlich sah, ich wahrscheinlich Ähnliches geschrieben hätte, ich es wichtig fand, dass viele so dachten, fand ich diese Tafel ziemlich bieder. Vorhersehbar. Langweilig. Obwohl ich jedes der Worte auch so hätte schreiben können, verspürte ich kein Interesse, an die Tafel zu schreiben.

Blut Wut Schmerzen

Ich ging einen Raum weiter. Die Wände eines langgezogenen Flurs waren behängt mit Fotos, Presseaufnahmen von weltweiten Protestbewegungen der Jahre 1945 bis 1995, »Momente, in denen Menschen in demokratischen Systemen öffentlichkeitswirksam nach Mitbestimmung strebten und dabei mitunter auf massive Widerstände stießen.« Ich sah Demos. Demos, auf denen Menschen gekämpft hatten. Ich sah Tränengasnebel, ich sah Menschenkörper, die sich gegen Schutzschilder von Armeen drängten, ich sah Zähne in aufgerissenen Mäulern von Hunden, sah Gesichter, die gelitten hatten, sah Blut, sah Schmerzen, Wut.

Ich fühlte mich wie vom Schlag getroffen. Ich spürte, dass es hier um etwas ging. Die konkrete Auseinandersetzung, das Körperliche, der Konflikt, das Kämpfen für etwas, noch mehr das Kämpfen gegen etwas, das elektrisierte mich maßlos. Es wurde gekämpft. Für etwas, indem man gegen etwas kämpfte.

Ich kehrte zurück in den Landtag. Ich hörte der Aktuellen Stunde über das Starten der Remigration aus Thüringen zu. Ich verließ den Landtag. Vor dem Landtag hatten sich an diesem Tag zwei Demonstrationen eingefunden: eine gegen zu hohe Dieselpreise, eine gegen Remigration.

Gegen.


Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä