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Wut Wahl

Die Leute sind wütend, dachten wir, eigentlich müssten wir sie mal fragen, worauf sie Wut haben. Also packten wir eine Tafel ein und Kreide dazu und fuhren raus ins Thüringer Land, um über Wut zu sprechen und Blumen werfen zu lassen

Foto: Stefan Petermann

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Stefan Petermann

»Der Thüringer Blumenwurf« nannten die Filmemacherin Yvonne Andrä und ich unser Vorhaben. Damit wollten wir anknüpfen an die Geste, mit der Susanne Hennig-Wellsow im Februar 2020 dem eben zum Ministerpräsidenten gewählten Thomas Kemmerich Blumen vor die Füße geworfen hatte. Von April bis Juli waren wir deshalb unterwegs in Städten, Kleinstädten und Dörfern und baten Menschen, an eine Tafel zu schreiben, was sie wütend macht. Sie schrieben Worte, Sätze, zählten hinter Gedankenstrichen auf: Wut auf Krieg, Ungerechtigkeit, Populismus, ignorante Begegnungen im Bus, fehlende Wertschätzung für das deutsche Volk und vieles mehr. Dann warfen sie Blumen. Nicht alle schrieben, manche ließen die Tafel leer. Nicht alle warfen, denn viele fanden die Geste ungehörig, es damals wie heute nicht richtig, Unmut mit dem Werfen von Blumen auszudrücken.

Kaffee und Kuchen

Wir hatten gedacht, das Werfen wäre der Kern unseres Vorhabens. Schnell merkten wir: Eigentlich geht es um das Sprechen. Miteinander sitzen und zuhören, bereden, was Wut für einen bedeutet, wie man damit umgeht, wo es Wut im Privaten gibt, wo Wut herrscht auf gesellschaftliche, auf politische Umstände. Wir brachten einen Tisch mit, legten eine adrette Decke darauf, stellten bunte Blumen dazu, manchmal gab es Kaffee und Kuchen. Wir wollten eine Stimmung schaffen, die der Wut entgegengesetzt war.

So sprachen wir mit Handwerkern, Altenpflegerinnen, einem ehemaligen Ministerpräsidenten, Schülerinnen, Rentnern, einem Obdachlosen, es waren lange, persönliche, oft intensive Unterhaltungen. Wenig wiederholte sich, immer wieder kam es zu neuen, zuvor nicht gehörten Perspektiven und Geschichten. Manche Wut war einfach, manche komplex, manche reflektiert, oft auch widersprüchlich, manchen waren diese Widersprüche bewusst, anderen nicht.

Keine zwei Sätze

Auch wenn viele die gegenwärtige Situation als schwierig empfanden, nicht selten als dysfunktional bezeichneten, deutliche Kritik äußerten an Kommunikation, an politischen Ritualen, Wut hatten auf Dinge und Abläufe, die wesentlich schlechter funktionierten als sie könnten, so fächerte sich doch ein gewaltiges Spektrum innerhalb dieser Wut auf. Wir dachten: Es kann kein Fazit geben. Keine definitive Erkenntnis, keine zwei Sätze, die alles zusammenfassen, keine drei Bullet-Points, die Handlungsanweisungen ergeben, mit denen sich die Wut im Handumdrehen besänftigen lässt.

Vielleicht brachten uns die Begegnungen zu dieser Feststellung: Wenn jemand – in welchem Rahmen auch immer – von »die Wut der Menschen«, »die Leute sind wütend«, »das Volk ist wütend« sprach, dann konnte das nicht stimmen. Wut war vielfältig, zu vielfältig, um für sich in Anspruch zu nehmen, im Namen einer Mehrheit zu sprechen. Selbst wenn sich die Wut auf ähnliche Themen richtete, konnten die Beweggründe dafür unterschiedlich sein, auch die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen wurden.

Verkrustung

Es gab viel zu lesen in diesen Blumenwürfen. Ein Gedanke, der mir dabei kam: Man wählt nicht aus Wut. Wut ist ein kurzes, explosives Gefühl, das sich entlädt und abklingt. Wut ist kein Dauerzustand. Wenn Wut andauert, verkrustet sie. Dann ist sie keine Wut mehr. In einem Gespräch machte jemand den Dreiklang Ärger – Wut – Hass auf. Ständig Wut zu erzeugen, so lange, bis sie hart und kalt wird, ist Absicht von Polarisierungsunternehmern, wie Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser das in ihrem Buch Triggerpunkte genannt haben; politische, mediale, gesellschaftliche Kräfte, die Interesse daran haben, Wut dauerhaft am Kochen zu halten. Und denen es das Geschäft verhageln würde, würden die Ursachen dieser Wut angegangen werden.

Wut ist ein kurzes Gefühl. Natürlich kann es sein: Auf dem Weg zum Wahllokal nimmt mir ein SUV die Vorfahrt und ich werde so wütend darüber, dass ich gleich darauf die Partei wähle, die SUVs aus den Städten bannen will. Oder: Nachmittags spricht jemand in Glottislauten zu mir und ich werde wegen der Verhunzung der deutschen Sprache so wütend, weshalb ich am Abend auf meinen Briefwahlunterlagen die Partei ankreuze, die Gendern strafrechtlich verfolgen möchte.

Gegen die Ohnmacht

Doch in den meisten Fällen stehe ich allein hinter der Tisch-Wahlkabine, allein mit mir, meiner Sicht auf der Welt und einem Zettel, der mir Möglichkeiten anbietet. Der Grund, der uns am häufigsten als Ursache für Wut genannt wurde, war Hilflosigkeit und Ohnmacht. Etwas stimmt nicht und ich habe das Gefühl, nichts dagegen tun zu können.

Eine Wahl ist das Gegenteil von Ohnmacht. Eine Wahl gibt mir die Möglichkeit, etwas zu tun. Selbst jene, die das bundesdeutsche Parteiensystem für überkommen halten und wollen, dass mal so richtig aufgeräumt wird, können ihrer Ohnmacht entfliehen und ihre Stimme an die Aufräumer vergeben.

Zwei Striche, ein Kreuz

Der Moment, in dem ich in einen Kreis zwei Striche zu einem Kreuz vereine, ist der Endpunkt verschiedener Dynamiken. Und nur eine davon war vielleicht Wut. Ich wähle, weil ich annehme, mit meiner Stimme die Ukraine in Friedensverhandlungen zu zwingen. Ich wähle, weil ich die Energiewende, die ich für wirtschaftsgefährdend halte, damit abwenden könnte. Ich wähle, weil ich Sachsen den ersten Platz als unattraktivstes Land für illegale Einwanderung streitig machen möchte. Ich wähle, weil ich mit meiner Stimme das Bürgergeld abschaffen kann. Ich wähle, weil ich annehme, dass meine Stimme dazu beiträgt, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Deutsche Bahn zu erreichen etc.

Es sind Entscheidungen, die ich gemäß der Logik, mit der ich mir diese große und komplizierte Welt erkläre, fälle. Keine Wahl aus Wut, keine Wahl aus Protest. Die Stimme, die ich vergebe, vergebe ich mit meiner Rationalität. Mein Kreuz ist immer auch ein Kreuz der Hoffnung. Ein Kreuz zur eigenen Ermächtigung. Ich möchte, dass sich etwas ändert. Ich werde Teil dieser Veränderung. Wie könnte ich wütend sein, wenn ich das tue, was ich tun möchte?

Die Wut, die kommt danach erst wieder.


Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä