Kategorien
Blog Thüringen

Wahlkampfrollen

Wie kommen Wählerinnen und Wähler an Informationen? Vor der Landtagswahl gab es neben vielen weiteren Möglichkeiten auch die Gelegenheit, jenen zu begegnen, die sich für ein politisches Amt bewarben. Ein Rückblick auf den Thüringer Landtagswahlkampf 2024.

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Stefan Petermann

Ich stand in einer Firmenhalle im Eichsfeld und wartete gemeinsam mit der Belegschaft auf den Kandidaten. Er sollte bald kommen. Während wir warteten, erzählte der Firmeninhaber, dass er den Kandidaten eingeladen hatte, damit seine Angestellten ihn hören konnten, eine Meinung wollte er ihnen natürlich nicht vorschreiben. Weil Zeit blieb, berichtete er noch von den Problemen, die sich seiner Firma stellten, sie waren zumeist bürokratischer Natur.

Als der Kandidat erschien, verzichtete er auf eine Rede vor der Belegschaft und ging gleich zu den Stehtischen hinein in Einzelgespräche. Es kam zu mehreren dieser Unterhaltungen im kleinen Kreis. Bisweilen wurden die besprochenen Themen vom Kandidaten angestoßen, meistens kamen sie von der Belegschaft selbst; Leben auf dem Dorf, Nahverkehr, Schulsituation, Gesundheitswesen, Bürokratie. Die Gespräche, bei denen ich zuhören konnte, wurden mehrheitlich differenziert geführt, waren in manchem erstaunlicherweise weitaus weniger zugespitzt, als ich das Diskutieren dieser Fragen auf den großen Podien erlebt hatte, selbst beim Thema Migration. Eine prominente ehemalige Bundesministerin tauchte in der Halle auf, sie war auf Rundreise, um ihre ostdeutschen Parteikollegen im Wahlkampf zu unterstützen.

Arena

Es war ein Wahlkampftermin, erfrischend in seiner Unaufgeregtheit. Man tauschte sich über Fragen des täglichen Lebens aus, benannte Probleme und erwartete vom Kandidaten, dass er Konzepte anbot, an deren Umsetzung er, falls er in die entsprechende Position gewählt werden würde, in den kommenden Jahren arbeiten würde. Sicherlich, nicht alles war zielführend, es wurde auch über Bratwurst gesprochen, aber egal. In diesen aufgewühlten Zeiten war ich dankbar für diese zwei Stunden im Eichsfeld.

Ich hatte diesen Wahlkampf auch anders erlebt. Einige Tage zuvor war ich in Suhl gewesen, drei Kandidaten standen im Congress Centrum auf der Bühne. Von Anfang an herrschte eine aggressive Grundstimmung. Man warf dem Nachbarn bitterböse Blicke zu, wenn er dem Amtsinhaber Beifall klatschte, lachte hämisch, johlte, peitschte, teilte aus, der Körper schüttete Adrenalin aus, in dem Gedanken versumpften. Fielen Begriffe wie Windrad, Messer oder Lastenrad, kam es augenblicklich zu Unmutsbekundungen seitens der Zuschauerinnen, Triggerpunkte, deren Emotionen einer der Kandidaten nahtlos in sein Sprechen auf dem Podium webte. Die Halle war eine Arena geworden.

Ein Ideal

Warum fahren die Kandidierenden durchs Land und sprechen vor Menschen? Und warum höre ich, der die Möglichkeit hat, zwei Stimmen zu vergeben, ihnen zu? Was wäre das Ideal eines Wahlkampfes? Vielleicht: Ich will Informationen. Ich möchte hören, welche Ideen und Vorstellungen die Kandidierenden haben, wie sie die Welt gestalten, sie besser machen wollen.

Und ich fahre zu Orten, an denen ich ihnen begegnen kann, weil ich mir mit eigenen Augen ein Bild von den Kandidierenden machen möchte: Wie redet sie? Wie ist seine Körpersprache? Wie reagiert sie auf Kritik und Widerspruch? Gelingt es ihm, mich zum Lachen/Wüten/Weinen/Kämpfen/Nachdenken zu bringen? Wie gelingt das ihnen? Macht es den Anschein, als könnte sie oder er ein Amt ausfüllen, von dem ich nur ungefähr ahne, was es mit sich bringt?

Termine

Ich hatte in den Monaten zuvor an mehreren Terminen teilgenommen, an denen die Kandidierenden Wahlkampf betrieben. Ich war an einem Wahlstand im Zentrum Geras. Auf dem Erfurter Domplatz, wo zu einer Abschlusskundgebung Heliumballons in Form blauer Remigrationsflugzeuge verteilt wurden. Ich war auf einer Lamawanderung gewesen, saß neben Schillers Gartenhaus, hörte dem Kanzler auf einem Marktplatz zu, war auf einer Karnevalsveranstaltung in Apolda, stand auf Empfängen von Wirtschaftsvertretern, beobachtete Parteitage, war bei Podien.

Ich verstand: Es gab die Termine, bei denen niemand überzeugt werden sollte. Weil die Anwesenden schon überzeugt waren. Bei diesen Kundgebungen, Einladungen an Parteifreunde, Sommerfesten ging es darum, Dank auszusprechen, die Anhänger mit Selbstbewusstsein zu füllen, sie für die letzten Tage noch einmal mit inhaltlichen Argumentationshilfen oder rhetorischen Mustern zu versorgen, um bei privaten Gesprächen Unentschlossene zu überzeugen. Das waren die Orte, an denen Selfies entstanden und sich Frauen zitternd vor Aufregung neben dem Kandidaten platzierten, über den so viel überregional geschrieben wurde und Männer vorsichtshalber drei Fotos machten, damit wenigstens eins davon scharf war. Es waren Termine, bei denen es keine Gegenrede gab, bei denen man sich über die grundsätzlichen Fragen der Welt einig war, wichtige Termine, weil man sich so vergewisserte, dass man einer Gruppe angehörte und diese Gruppe sich an diesen Terminen wie eine Mehrheit anfühlte.

Unter sich / mit anderen

Anders war das auf Podien. Bis zu sechs Sprechende sprachen, zum Teil miteinander, eher gegeneinander. Moderatorinnen stellten kritische Fragen, der politische Konkurrent war gegensätzlicher Meinung, im Publikum saß ein Spektrum an Meinungsträgern, die sich bemerkbar machten. Auch an Wahlkampfständen war man nicht unter sich. Passanten kamen, sahen das Logo einer Partei und beschlossen, dass hier ein guter Ort wäre, ihren Frust abzuladen. Manche wurden dabei übergriffig. Nicht immer war es so, öfter sammelten sich Sympathisanten und nutzten die Gelegenheit, Zustimmung auszudrücken oder noch einmal bei bestimmten Themen nachzuhaken, zu fragen, mit wem man denn zukünftig koalieren wolle und – oftmals wichtiger – mit wem nicht.

Was dazu gehört

Ich fragte mich, welche Rollen solche Termine innerhalb eines direkten Wahlkampfs spielten. Welche Auswirkung hat die unmittelbare Begegnung mit den Kandidierenden auf meine Entscheidung? Schließlich findet der Prozess der politischen Meinungsbildung in vielen Räumen zugleich statt. Man bemüht Berichte, Reportagen, Analysen, welche die Positionen der Kandidierenden zueinander in Vergleich setzen, Hintergründe erläutern, Fakten vorbringen, die das Wahrgenommene ergänzen, manchmal widerlegen. Man liest das Wahlprogramm und stellt fest, dass dort etwas von Subventionskürzungen steht und damit ganz anders klingt, als das der Kandidat so überzeugend vor Traktoren vorgetragen hat.

Zu diesem Meinungsbildungsprozess gehören auch: Zitatekacheln im WhatsApp-Chat. Youtube-Kanäle. KI-generierte Videos. Videomanipulationen mit Tik-Tok-Reels. Russische Bots, die Desinformation mit dem Ziel verbreiten, den Indikator »Zukunftsangst« zu steigern. Dazu gehören: Pausengespräche im Büro. Freitagabende beim Feuerwehrverein. Grillen mit Freunden und Familie. Dazu gehört die Weltlage, Geschehnisse, die, obwohl sie von den Kandidierenden nicht zu beeinflussen sind, Einfluss auf die Entscheidung nehmen. Ein wandernder Zeitgeist gehört dazu. Eine Sehnsucht nach der Simson, das Gefühl, das es mal anders war und damit besser. Das Gefühl von Angst gehört dazu, ein Grummeln, ein Nährboden.

Ausgeleuchtet

Hätten die Zahlen, die am 1. September 2024 verkündet wurden, anders aussehen können (in jegliche Richtung), wenn die Termine andere gewesen wären? Wenn die Kandidierenden noch mehr über Migration gesprochen hätten? Oder weniger? Wenn sie mehr über den Abbau von Bürokratie gesprochen hätten, weniger über Windräder, mehr über Regionales, weniger über Krieg, mehr über Krieg? Wenn es mehr TV-Duelle gegeben hätte, mehr Inhalt, mehr Emotion, mehr Bratwürste? Mehr Großveranstaltungen mit mehr Prominenz, mehr Demonstrationen, mehr lokale Bündnisse, mehr Gelegenheiten, Gespräche von Angesicht zu Angesicht zu führen? Wenn sich alle Kandidierenden auf Mopeds gesetzt und »Ost- Ost- Ostdeutschland« gerufen hätten? 

Bei den Terminen, an denen ich teilnahm, bin ich vielen Medienvertreterinnen begegnet – sie kamen von vielen, sehr unterschiedlichen Kanälen, kamen aus dem In-, aus dem Ausland. Sie führten Gespräche, hörten zu, beobachteten, schrieben darüber, sprachen darüber, mit besten Kräften bemüht, zu verstehen, was geschieht. Der Thüringer Landtagswahlkampf 2024 war extrem gut ausgeleuchtet; kaum ein Ort, der unbetreten blieb, kaum eine Wahlkampfveranstaltung, die nicht gestreamt oder beschrieben wurde. Wer wollte, konnte sie in Erfahrung bringen: all die Momente, Begegnungen, Mosaikstückchen, die Geschichten und Zusammenhänge, die Informationen und Emotionen, die zusammenflossen und die Zahlen ergaben vom 1. September 2024, mit denen in den nächsten fünf Jahren in Thüringen das Leben gestaltet werden wird.


Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä