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Vergessen, Verdrängen, Verleugnen

Die erste Sitzung des Thüringer Landtages nach der Wahl war geradezu chaotisch; noch chaotischer, als das nicht wenige Abgeordnete erwartet hatten. Dafür, warum sich viele trotz der Erfahrungen aus der Kemmerich-Wahl nun wieder so überrascht zeigen, gibt es nur drei Erklärungsansätze.

Bild: Stefan Petermann

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Sebastian Haak

Dafür, wie ehrlich erschrocken und entsetzt viele – wenn auch nicht alle – Abgeordnete des Thüringer Landtages über das waren, was sich während der ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments ereignet hat, dafür steht dieser eine Satz, der dem parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, Andreas Bühl, plötzliche und bundesweite Bekanntheit eingebracht hat: „Was Sie betreiben, ist Machtergreifung!“

Diese fünf Worte hatte Bühl dem Alterspräsidenten des Landtages, dem AfD-Abgeordneten Jürgen Treutler, in einem emotionalen Ausbruch entgegen geschleudert, nachdem Treutler sich im Rahmen der konstituierenden Sitzung des Parlaments am 26. September mehrfach geweigert hatte, die Beschlussfähigkeit des Landtages festzustellen und einen Geschäftsordnungsantrag von CDU und BSW aufzurufen.

Gewiss, dass dies keine einfache Sitzung werden würde, das war allen klar. Natürlich auch den Abgeordneten von CDU, BSW, Linke und SPD. Weshalb sich diese Fraktionen intensiv auf das vorbereitet hatten, was schließlich geschehen war und was an dieser Stelle nicht erneut in aller Ausführlichkeit dargestellt werden muss, die Kurzform genügt: Nach stundenlangen Wortgefechten und Unterbrechungen der Sitzung, nach der Aufforderung an Treutler den Sitz des Alterspräsidenten zu verlassen, musste der Thüringer Verfassungsgerichtshof einschreiten, angerufen von der CDU-Landtagsfraktion und Bühl. Im Ergebnis stellten die höchsten Richter des Freistaats fest, dass Treutler – der während der Sitzung nicht als neutraler Zeremonienmeister, sondern als Gesandter seiner Partei agiert hatte – Verfassungsrecht gebrochen hatte.

Viele Parlamentarier und politische Berater hat die konstituierende Landtagssitzung überrascht

Doch wie schlimm diese konstituierende Landtagssitzung am Ende werden würde, mit welcher Vehemenz und mit welcher Schärfe Treutler und damit die AfD seit Langem eingeübte parlamentarische Praktiken angreifen würden, das hat dann doch viele der Parlamentarier und auch politische Berater überrascht – was wiederum die Frage aufwirft, wie das passieren konnte, warum sie nicht mit dieser Vehemenz und Schärfe gerechnet haben. „Dass die AfD das so weit treiben würde, hätte ich nicht gedacht“, sagte nach Ende des Sitzungstages jemand, der über jahrelange politische Erfahrung in Thüringen verfügt.

Umso drängender stellt sich die Frage, weil es im Vorfeld ja immer wieder Warnungen vor genau solchen Szenarien und Szenen und mahnende Beispiele gegeben hatte. Etwa durch die Aktiven des Verfassungsblogs, der mit seinem sogenannten Thüringenprojekt die Schwachstellen in der Landesverfassung und auch in der Geschäftsordnung des Landtages ausgeleuchtet hatte. Oder, weil spätestens mit der Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 eigentlich für jeden offenbar geworden sein musste, wie sehr die AfD eingeübte parlamentarische Spielregeln und Traditionen ausnutzt, um das politische System in Deutschland immer wieder zumindest vorzuführen, teilweise sogar offen zu bekämpfen, weshalb unter anderem der Thüringer Landesverband der AfD bekanntermaßen inzwischen als erwiesen rechtsextrem eingestuft wird.

Auch unmittelbar nach der Kemmerich-Wahl waren Abgeordnete und politische Berater mit wirklich, ehrlich, ungespielt erschrockenen und entsetzten Minen über die Flure Parlaments gelaufen. Schon damals hieß es immer wieder, man habe sich nicht vorstellen können, wie weit die AfD bereit sei zu gehen, um die parlamentarische Demokratie verächtlich zu machen.

Drei Ansätze zur Erklärung des Entsetzens im Politikbetrieb bieten sich an

Es bieten sich deshalb also eigentlich nur drei Erklärungsansätze an, um sich der Frage zu nähern, warum das Entsetzen bei vielen im Politikbetrieb über diese konstituierende Sitzung des Tages nun wieder so groß ist – trotz aller Warnungen, trotz Kemmerich-Wahl.

Eins: Vergessen. So viel ist seit dem 5. Februar 2020 inzwischen in Thüringen, aber auch auf der Welt geschehen, dass mancher sich inzwischen einfach nicht mehr daran erinnern mag, wie weit zu gehen die AfD in ihrem Kampf gegen „die Altparteien“ oder die „Kartellparteien“ zu gehen ist.

Zwei: Verdrängen, also eine Art aktive Vergesslichkeit, weil die Stimmen der AfD in der Vergangenheit ja durchaus auch gebraucht worden sind, um politische Projekte durchzusetzen. Erinnert sei hier nur daran, dass bald nach dem Schock über die Kemmerich-Wahl FDP und CDU die Grunderwerbssteuer in Thüringen nur gestützt auf die Stimmen der AfD senken konnte.

Drei: Verleugnen. Noch immer wollen viele im politischen Betrieb einfach nicht wahrhaben, dass in Deutschland heute eine Partei fast ein Drittel der Wählerstimmen bekommen hat, die ein anderes politisches System will – weil so viele Menschen ja angeblich kaum eine extremistische Partei wählen würden. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Angeblich.

In den nächsten Monaten und vielleicht Jahren mag sich zeigen, dass es eine Mischung aus allen drei Ansätzen ist, die zur Beantwortung der sich aufdrängenden Warum-Frage herangezogen werden muss.

Schlechtes Vorzeichen für die nächsten Monate und Jahre im politischen Thüringen

Für die nächsten Monate und Jahre jedenfalls bedeutet der chaotisch Start in die neue Legislaturperiode nichts Gutes. Dass die AfD nun wieder so weit gegangen ist, wie vor fast fünf Jahren, unterstreicht, wie entschlossen deren Abgeordnete unter der Führung ihres Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke sind, die Macht auszunutzen, die sie im Landtag haben. Macht, die entweder durch Zufall kommt, wie im Fall des Alterspräsidenten, den sie nur deshalb stellt, weil das an Lebensjahren älteste Mitglied des Parlaments eben ein AfD-Mann ist. Macht infolge des Wählerwillens, der die AfD im Landtag zur stärksten Fraktion gemacht hat, die gleichwohl noch immer weit von der absoluten Mehrheit entfernt ist. Das festzustellen ist wichtig, immerhin suggeriert Höcke regelmäßig, nach dieser Landtagswahl sei doch klar, dass „das Volk“ wolle, dass die AfD regiere. Fakt ist: Zwei-Drittel der Thüringer haben die AfD nicht gewählt.

So oder so: Wann immer sich der AfD die Möglichkeit bietet, wird deren Fraktion ausgehend von dieser ersten Landtagssitzung ziemlich sicher versuchen, die anderen Parlamentarier vorzuführen oder ihnen das Abgeordnetenleben schwer zu machen. Weil die AfD im Parlament über eine Sperrminorität – also eine Zwei-Drittel-Mehrheit gegen sie unmöglich ist – verfügt, wird sie ausreichend Gelegenheit dazu haben. Schon die anstehende Neubesetzung eines stellvertretenden Mitglieds des Thüringer Verfassungsgerichtshofs kann nicht gegen die AfD erfolgen, was geradezu eine Einladung an Höcke und die Seinen ist, große Forderungen an die Anderen zu stellen.

Auch vor diesem Sperrminoritätsszenario hatten der Verfassungsblog und Andere in der Vergangenheit gewarnt. Sie sind ungehört geblieben. Nun muss Thüringen mit den Folgen leben lernen.


Zum Autor
Sebastian Haak arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als freier Journalist in Thüringen. Der promovierte Historiker berichtet insbesondere über die Thüringer Landespolitik. Er schreibt unter anderem für Freies Wort, die Thüringische Landeszeitung und die Deutsche Presse-Agentur.
Foto: ari