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Über die Gewöhnung

Wirfst du den Frosch in kochend heißes Wasser, hüpft er sofort heraus. Setzt du ihn dagegen in lauwarmes Wasser und erhöhst die Temperatur allmählich, spürt der Frosch nicht, dass er gekocht wird. So könnte ein Text über die Gewöhnung beginnen.

Foto: Stefan Petermann

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Stefan Petermann

Problem dabei: Das Bild stimmt nicht. Die Geschichte ist ein Mythos. In Wirklichkeit springt der Frosch, wenn ihm zu warm wird, aus dem Topf heraus. Denn er spürt, dass er gekocht werden soll. Was schade ist, weil es eine einprägsame Metapher wäre, um zu zeigen, wie der Mensch an Zustände gewöhnt wird, so lang, bis sich seine Situation als unerträglich erweist. Der Mensch hat den Weg dahin nicht mitbekommen. Nur den Endpunkt merkt er und dann ist es zu spät, umzukehren.

Wenn das Bild vom Frosch im heißen Wasser nicht schlüssig ist, wie lässt sich Gewöhnung dann beschreiben? Und gibt es eine Gewöhnung überhaupt? Gibt es einen lauwarmen Ausgangspunkt, den ich längst hinter mir gelassen habe? Wurde Menschen, die politisch arbeiten, nicht immer schon Gewalt angetan? Wolfgang Schäuble, Oskar Lafontaine, der Hallenser Eierwurf auf Helmut Kohl, die Farbbeutelattacke auf Joschka Fischer, der Tortenwurf auf Beatrix von Storch? Der Mord an Walter Lübcke? Sollten wir nicht längst gewöhnt daran sein, dass beim Plakataufhängen Politiker krankenhausreif geschlagen werden? Gewöhnt an Brandanschläge auf Wohnhäuser von Politikern? An Faustschläge in Gesichter? Gewöhnt an Galgen, an denen Namen von Politikerinnen hängen? Gewöhnt an Demonstrationszüge, die mit Fackeln vor den Heimen von Bürgermeisterinnen aufmarschieren? Gewöhnt, angerotzt zu werden? Gewöhnt nun, dass die vernünftige Vorgabe ist, nur in Vierergruppen noch Wahlplakate aufzuhängen und das allein tagsüber? Weil man eben als jemand, der Politik macht, damit rechnen muss, angegriffen zu werden? Ist eben so, isso jetzt?

Der normale Zustand

Innerhalb dieses Textes nehmen die Sätze des letzten Absatzes die Funktion rhetorischer Fragen ein. Weil sich die überwiegende Mehrzahl nicht daran gewöhnen möchte. Sie hält Gewalt nicht für einen normalen Zustand einer Gesellschaft, deren Teil sie ist. Zumindest ist das die hoffnungsfrohe Annahme. Und eine Woche ist diese Annahme öffentlicher Common Sense und ich solidarisiere mich und teile das Foto, das der Politiker aus dem Krankenhaus in Dresden gepostet hat. Doch wenn ich abspeichere: Ich finde nicht gut, dass es passiert, speichere ich unwillkürlich auch ab: Das ist jetzt so. Weil es ist jetzt ja passiert. Weil es oft passiert, schließlich habe ich oft davon gelesen. Diesen wahrscheinlichen Möglichkeitsraum von Gewalt werde ich in nächster Zeit mitdenken. Ich will mich nicht daran gewöhnen, ich verspüre ein tiefes Bedürfnis, das nicht hinzunehmen. Und doch gehört das zu dieser Gegenwart dazu. Frage mich in einem halben Jahr noch einmal, wie oft ich darüber nachdenke, dass ich mich nicht daran gewöhnen will.

Zweckerfüllung

Gewöhnung dient einem Zweck. Sie hilft mir, die Gegenwart zu ertragen. Gewöhnung heißt: Ich muss den Istzustand nicht permanent als Ausnahmezustand erleben. Ich nehme hin, was ist, um weitermachen zu können. Um nicht ständig durchzudrehen. Um den kleinteiligen, kräftezehrenden Alltag zu bewältigen. Es ist ermüdend, ständig gegen etwas kämpfen zu müssen. Die Dinge sind nicht optimal. Trotzdem gehe ich von hier aus weiter. Mit der Gewöhnung beruhige ich mich, dass ich nicht ständig eingreifen muss. Indem ich mich gewöhne, schone ich Ressourcen, um mich auf anderes konzentrieren zu können.

Gegenmittel

Doch, wenn ich wöllte, welche Möglichkeiten kann es geben, der Gewöhnung zu entkommen? Vielleicht, indem ich vergleiche. Ich lese in alten Tagebucheinträgen nach, was mir damals als außerordentlich erschien und vergleiche das Außerordentliche von gestern mit dem, was mir heute außerordentlich scheint. Was nahm ich einmal als Abweichung von meiner Norm wahr? Über was sprachen wir einst? Mit welchen Worten sprachen wir darüber? Ich lese in Chroniken nach, schaue vergangene Nachrichtenbeiträge durch. Was hatte früher Nachrichtenwert, was heute? Worin liegen die Unterschiede? In vier Jahren Donald Trump habe ich mich an so einiges gewöhnen müssen, von dem ich 2016 dachte, es wäre unmöglich, davon nicht ständig in Aufregung versetzt zu werden. Lange ist es her, dass ich in ständiger Aufregung war deswegen. Der allgemeine Bewertungsmaßstab hat sich verschoben, auch der eigene. Auch aus Notwehr.

Ich frage mich: Werde ich langsam gekocht? Und falls ja: Wie definiert sich der Punkt, an dem ich aus dem Wasser springe? Wie sieht dieses Springen aus? Was ist mit den anderen Fröschen, die ich im Wasser vermute? Was geschieht mit dem Wasser? Wie wird es wieder kühler? Was für ein Zustand herrscht eigentlich außerhalb des Topfes? Wer kocht?

Der Frosch ist die Metapher, die nicht funktioniert, um das Gewöhnen zu beschreiben. Besser ist es Victor Klemperer gelungen. Auf Sprache hat er sich bezogen und damit auf etwas Entscheidendes. Von Arsendosen hat er geschrieben, winzige Dose um winzige Dose verschluckt, Wort für Wort, Riss um Riss, Übergriff um Übergriff, Fackel um Fackel, Galgen um Galgen, unbemerkt und ohne Wirkung bei jedem Schluck und am Ende ist die Giftwirkung doch da. Am Ende bin ich vergiftet. Am Ende bin ich gewöhnt.


Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä