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Migration: Abstrakte Ängste schlagen echte Probleme

Kaum ein anderes Thema hat politische, gesellschaftliche und auch private Diskussionen in Deutschland in den vergangenen Jahren so sehr bestimmt wie das Thema Migration. Folgerichtig prägt der Umgang mit Flüchtlingen und Migranten auch den Landtagswahlkampf in Thüringen. Das belegt, wie schwer abstrakten Ängsten beizukommen ist.

In vielen Thüringer Krankenhäusern arbeiten mittlerweile im Ausland geborene Ärzte und Pflegekräfte.
Foto: Akram Huseyn auf Unsplash

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Sebastian Haak

Wer in den vergangenen Jahren aus einem beschaulichen Thüringer Dorf – etwa aus Deesbach im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, aus Wiesenthal im Wartburgkreis oder aus Kriebitzsch im Altenburger Land – nach Berlin, Hamburg, Köln oder München gereist ist, der wird sich einigermaßen verwundert die Augen gerieben haben: In diesen Großstädten leben so viele Menschen, die überhaupt nicht „deutsch“ aussehen und untereinander oft nicht Deutsch sprechen, auf ziemlich begrenztem Raum – während man nicht nur in diesen drei Thüringen Orten Menschen schon fast mit der Lupe suchen muss, die nicht den gängigen Stereotypen vom Deutschsein entsprechen. Trotzdem haben unter anderem bei der jüngsten Bundestagswahl ausgerechnet in Deesbach, Wiesenthal und Kriebitzsch auffallend viele Menschen für die AfD gestimmt; jene Gruppierung also, die wie kaum eine andere unter den einflussreichen Parteien in der Berliner Republik Stimmung gegen Menschen macht, die entweder keinen deutschen Pass oder eine Migrationsbiografie haben.

Ausgerechnet dort, so muss man schlussfolgern, sind also viele Menschen ausgesprochen migrationskritisch oder gar -feindlich eingestellt, wo man Nicht-Deutsche eher aus der Zeitung, dem Fernsehen oder sozialen Netzwerken kennt als aus dem eigenem Alltag. In Deesbach kam die AfD bei der Bundestagswahl 2021 auf einen Zweitstimmen-Anteil von etwa 43 Prozent; in Wiesenthal auf einen Vergleichswert von fast 40 Prozent und in Kriebitzsch auf einen Anteil von genau 36 Prozent. Weder CDU, noch SPD, noch Linke, noch Grüne, noch FDP kamen in diesen drei kleinen Dörfern auch nur in die Nähe solcher Stimmenanteile.

In Thüringen leben vergleichsweise wenige Menschen mit Migrationshintergrund

Dafür, wie sehr das Thema Migration auch den aktuellen Thüringer Landtagswahlkampf dominiert, ist diese Diskrepanz bezeichnend. Denn einerseits leben in Thüringen deutlich weniger Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder mit Migrationsbiografie als etwa in Nordrhein-Westfalen oder Bayern. Und die Migranten, die doch im Freistaat ihren zumindest vorübergehenden Lebensmittelpunkt haben, sind viel häufiger in Erfurt, Jena oder Gera zu finden, als in den Weiten des ländlichen Raums, der zwischen diesen drei größten Thüringer Städten liegt. Andererseits aber beschäftigt die Migrationsfrage die Menschen genau dort am allermeisten, wo es eben kaum oder gar keine Migranten mit.

Eine vor wenigen Wochen veröffentlichte, von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie hatte diesen Widerspruch sogar ziemlich präzise vermessen. Nach dieser repräsentativen Erhebung sagen ausgerechnet im ländlichen geprägten, migrationsarmen Thüringen fast 58 Prozent der Menschen, die Sache mit der Migration sei für sie persönlich das größte Problem, um das sich „die Landespolitik in Thüringen stärker kümmern sollte“. Vor allem junge Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahre sehen das dieser Studie nach so.

Dass es so weit gekommen ist, muss man als einen Beleg dafür interpretieren, dass in den vergangenen Jahren alle Versuche auch der rot-rot-grünen Landesregierung gescheitert sind, populistischer und oft extremistischer Stimmungsmache gegenüber Nicht-Deutschen oder Deutschen mit Migrationshintergrund eine ganz anderes Narrativ entgegen zu setzen.

Viele Thüringer Kliniken und Pflegedienste sind auf im Ausland geborene Fachkräfte angewiesen

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow oder auch Thüringens Arbeitsministerin Heike Werner beispielsweise mögen noch so oft auf die Tatsache hinweisen, dass es zum Beispiel in vielen Thüringer Krankenhäusern oder Pflegediensten ganz düster aussähe, wenn dort nicht im Ausland geborene Ärzte oder Pflegerinnen arbeiten würden. Also: Dass tausende und abertausende alte Menschen in diesem Freistaat nicht einmal mit dem Allernötigsten – Waschen, Essen, Medikamenten, einem freundlichen Lächeln – versorgt würden, wenn im hiesigen Gesundheitswesen nicht so viele Migranten arbeiten würde, wie sie es bereits tun. Tausende weitere werden nicht nur in dieser Branche demnächst noch zusätzlich gebraucht werden.

Allzu viele Menschen in diesem Land lassen sich von derlei Wahrheiten einfach nicht beeindrucken. Ihre abstrakte Angst, Nicht-Deutsche wollten sich auf Kosten des deutschen Sozialstaats ein von ihnen bezahltes Leben in Deutschland machen oder Deutschland gleich ganz abschaffen, ist und bleibt weit stärker als die realen Probleme der Gegenwart und Zukunft es sein könnten.

Nun mag man es als beruhigend empfinden, dass diese Diskrepanz nicht nur in Thüringen zu beobachten ist, sondern auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern. Und sogar in Einwanderungsgesellschaft wie der amerikanischen. Tatsächlich ist es an dieser Relativierung aber überhaupt nichts Beruhigendes. Schon deshalb nicht, weil die Migrationsfrage allzu oft von den Problemen ablenkt, die es wirklich in Thüringen gibt und für die das Land sogar eine eigene Zuständigkeit hat.

Die gibt es bei der Migration nämlich nicht: Egal, wer Thüringen demnächst regiert – die Schließung der deutschen Außengrenzen wird die neue Landesregierung nicht erzwingen können. Maßnahmen für weniger Unterrichtsausfall an den Schulen im Freistaat dagegen schon.


Zum Autor
Sebastian Haak arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als freier Journalist in Thüringen. Der promovierte Historiker berichtet insbesondere über die Thüringer Landespolitik. Er schreibt unter anderem für Freies Wort, die Thüringische Landeszeitung und die Deutsche Presse-Agentur.
Foto: ari