Ich demonstriere
Ich gehe auf eine Demonstration, weil ich Angst habe dass. Ich gehe auf eine Demonstration, weil ich wütend bin auf. Ich gehe auf eine Demonstration, weil ich ein Zeichen setzen will für. Ich gehe auf eine Demonstration, weil es so nicht mehr weitergehen kann.
Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.
von Stefan Petermann
Ich gehe auf eine Demo, weil mein Freundeskreis geht. Weil ich auf Nius gelesen habe dass. Weil die Correctiv-Recherche mich aufgerüttelt hat und deshalb möchte ich. Ich empört bin wegen der Kriegstreiberei in Deutschland. Ich fühle mich in meiner Freiheit beschnitten. Weil Deutschland wieder. Weil ich Angst habe. Weil die da oben alle Kasper sind. Weil ich für Vielfalt bin. Weil ich in einer Diktatur lebe. Weil ich herausfinden will, was ich anstelle meiner Großeltern getan hätte. Meine Telegramgruppe hat die Einladung versendet. Ich gehe sowieso jeden Montag spazieren. Ich es wichtig finde, Gesicht zu zeigen. Ich bin zum ersten Mal seit 89 wieder auf der Straße.
Ich nehme mit
Ich nehme weiße Rosen mit, weil ich mich verfolgt fühle wie damals Hans und Sophie, seit Monaten bin ich aktiv im Widerstand, ich werde niemals aufgeben, mich für Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit einzusetzen. Ich schreibe auf die Pappe eines gebrauchten Amazonpakets, dass die ganze Stadt die […] hasst. Ich bastle einen Galgen, an den ich Namen von Politikern hänge. Ich nehme meine Regenbogenflagge von der Wand. Ich nehme meine Deutschlandfahne von der Wand. Ich nehme meine Antifa-Flagge von der Wand. Ich nehme meine Wirmer-Flagge von der Wand. Ich nehme meine Russlandflagge von der Wand. Ich nehme meine Palästinaflagge von der Wand. Ich ziehe eine gelbe Hose an und einen blauen Pullover. Ich drucke wieder Bildmontagen von Karl Lauterbach in Sträflingskleidung aus. Ich drapiere meinen Traktor. Ich packe meine Trommel ein. Ich packe meine Klangschale ein. Ich nehme einen Dudelsack mit. Ich nehme eine Friedenstaube mit. Ich klebe ein Kruzifix auf das Grundgesetz und nehme das mit. Ich schlüpfe in ein T-Shirt, auf dem steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Ich trage ein T-Shirt der Die-Lunikoff-Verschwörung. Ich trage das Smiley-T-Shirt von Nirvana. Ich trage eine Jack-Wolfskin-Jacke. Ich trage ein T-Shirt, auf dem steht »Eat The Rich.« Ich nehme meine ganze Familie mit, auch die Kinder. Ich klebe einige meiner Tattoos ab.
Ich bin auf
Auf der Demonstration treffe ich meinen Nachbarn und bin ganz erstaunt, ihn hier zu sehen. Ich bin überrascht, wie viele hier sind. Ich bin enttäuscht, dass viel weniger als gedacht hier sind. Muss denn wirklich so viel Polizei hier sein? Ich schreie Polizisten an. Ich schreie den Himmel an. Ich schreie die Gegendemonstranten an. Wegen der Gegendemonstranten verstehe ich kaum, was die Rednerin gerade auf der Bühne sagt. Der Redner auf der Bühne weist auf welche hin, die uns vom Rand der Demo aus filmen. Jemand vom Awarenessteam spricht mich an und fragt, ob ich mich sicher fühle. Ein Freund schickt mir eine WhatsApp, dass er auch hier ist. Ich suche ihn. Es ist eng. Ich spüre Adrenalin. Kann man Adrenalin spüren? Aber etwas peitscht in mir. Mir ist kalt. Es wird ganz schön warm zwischen all den Leibern. Ich spucke auf die Linse einer Kamera. Ich höre zu, wie mir der Ministerpräsident / eine Bürgerin / jemand von der Gewerkschaft / eine Sängerin etwas mitzuteilen hat. Ich fühle mich verstanden. Ich pfeife. Ich klatsche. Ich buhe. Ich singe. Ich schließe mich einer Polonaise an. Ich rufe Druschba Free Gaza Zusammen gegen Rechts Widerstand jetzt Kalifat ist die Lösung Ost- Ost- Ostdeutschland Alerta Alerta Auf die Straße KiTa darf kein Luxus sein Nie wieder ist jetzt Wir sind das Volk. Ich meditiere auf dem Bordstein. Ich tanze zu einer Reggae-Version von Bella Ciao. Ich mache mich mit den anderen auf zum Haus des Bürgermeisters. Mich zermürbt das unablässige Geschrei. Ich schiebe meine Kinder in die erste Reihe des Demonstrationszugs. Ich blase Luft in meine Trillerpfeife. Ich rassle. Hinter uns fahren Einsatzwagen. Ich hindere das Auto einer Politikerin an der Abfahrt und schlage auf die Karosserie ein. Mit dem Handy, das ich auf einen Stick geschraubt habe, fotografiere ich mich inmitten der Demonstrierenden.
Danach
Nach der Demo poste ich das Selfie. Wenn ich die Berichte in den Medien darüber lese, fühle ich mich falsch verstanden. Solche Leute waren gar nicht dabei. Die Zahl der Anwesenden, die die Polizei angibt, ist viel kleiner als die, die ich gesehen habe. Auf dem Nachhauseweg werde ich von örtlichen Faschos bedrängt. Zuhause wasche ich das Adrenalin aus meinem T-Shirt. Kann sich Adrenalin überhaupt in Kleidung verfangen? Waren den Gehwegplatten und den Asphaltstraßen, den Pflastersteinen und Plätzen die Füße gleich, die auf ihnen standen?
Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä