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Keine Wahl wie jede andere

Wenn die Menschen im Freistaat am 1. September über die Zusammensetzung des nächsten Thüringer Landtages entscheiden, nehmen sie an einer Wahl teil, bei der die Voraussetzungen ganz anders sind, als sie es bei allen anderen Landtagswahlen in der jüngeren Geschichte Thüringens waren. Wie es danach weitergeht, ist deshalb völlig offen.

Foto: Arnaud Jägers / Unsplash

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Sebastian Haak

Ziemlich genau seit neun Jahren schon ist Thüringen ein bundespolitisches Experimentierfeld. Als am 5. Dezember 2014 eine rot-rot-grüne Regierungskoalition mit der Wahl von Bodo Ramelow zum ersten linken Ministerpräsidenten Deutschlands die parlamentarische Macht im Freistaat übernahm, war alles andere als sicher, dass dieses Bündnis aus Linken, SPD und Grünen länger als ein paar Monate halten würde. Nicht nur, dass die inhaltlichen Spannungen innerhalb des Bündnisses groß waren. Dass die Koalitionäre nur über eine Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag verfügten, schien diesen Zusammenschluss so instabil zu machen, dass sowohl im politischen Erfurt als auch im politischen Berlin viele darauf wetteten, in Thüringen werde bald wieder neu gewählt werden müssen. Das war ein Irrtum. Das experimentelle Dreierbündnis hielt.

2019 hat die Koalition ihre Mehrheit verloren

Seit damals ist viel passiert: Bei der Landtagswahl 2019 verloren Linke, SPD und Grüne ihr knappe Mehrheit. Am 5. Februar 2020 konnte sich deshalb der FDP-Mann Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählen lassen; mit den Stimmen der AfD-Landtagsfraktion, die dafür im dritten Wahlgang ihren eigenen Kandidaten opferte. Auf diesen sogenannten Dammbruch von Erfurt folgte eine thüringisch-deutsche Staatskrise, die schließlich damit endete, dass Kemmerich sein Amt nach wenigen Tagen verlor – und Rot-Rot-Grün eine auf die CDU gestützte Minderheitskoalition bildete, die eine Minderheitsregierung trägt, an deren Spitze wieder und bis heute Ramelow steht. Auch diese experimentelle Minderheitskoalition hat gehalten.

Doch gemessen an dem, was am 1. September geschehen wird, verblasst selbst dieses an vielen Irrungen und Wirrungen nicht arme Vorspiel. Denn die Thüringer Landtagswahl 2024 hat nach allem, was sich über sie vorhersagen lässt, ein noch viel größeres Potenzial als die vergangenen neun Jahre, den Anfang von grundlegenden Veränderungen im politischen System Deutschlands zu markieren.

So viele Parteien wie nie haben Chancen einzuziehen

Das liegt erstens daran, dass so viele Parteien wie nie zuvor in der jüngeren Landesgeschichte eine realistische, wenn bisweilen auch nur kleine Chance haben, ins Landesparlament einzuziehen. Das ist ein Ausdruck der zunehmenden Zersplitterung der Parteienlandschaft, die viel mit jener nachlassenden Wählerbindung zu tun hat, die sich seit Jahrzehnten schon zeigt.

Neben den derzeit im Landtag vertretenen Parteien Linke, CDU, AfD, SPD, Grüne und FDP könnte auch die Neugründung BSW den Einzug in den Landtag schaffen. Gänzlich ausgeschlossen ist zudem nicht, dass auch ein Bündnis aus dem Umfeld der sogenannten Bürger für Thüringen beziehungsweise der Werteunion den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schafft; gleichwohl das weniger wahrscheinlich ist als ein entsprechender Wahlerfolg von BSW.

Zweitens dürfte die nächste Landtagswahl die politische Landschaft verändern, weil mit der Thüringer AfD ausgerechnet die Partei, die in den Meinungsumfragen seit Langem den stärksten Zuspruch erhält, vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Alle anderen, heute schon im Landtag vertretenen Parteien haben jede Form der Zusammenarbeit mit ihr ausgeschlossen.

Viele Fragen zur Landtagswahl 2024 bleiben offen

Was aber, wenn trotz ihrer politischen Ausrichtung so viele Menschen für die AfD stimmen, dass dann nur bislang eigentlich ausgeschlossene Bündnisse – wie etwa eine Zusammenarbeit zwischen Linke und CDU – den Freistaat vor der Regierungsunfähigkeit bewahren können? Was, wenn die AfD so stark wird, dass sie eine parlamentarische Sperrminorität erreichen würde, die ihr großen Einfluss zum Beispiel bei der Besetzung des Verfassungsgerichts brächte? Was, wenn die AfD sogar die absolute Mehrheit im Landtag erreichen sollte, weil FDP, Grüne, BSW und andere Parteien doch an der Fünf-Hürde scheitern?

Niemand vermag derzeit seriöse Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu geben. Klar ist nur, dass diese Antworten bundesweit großes Gewicht haben werden. Was dann sein wird, wird sich nicht einmal am Wahlabend genau sagen lassen, sondern frühestens in den Wochen, vielleicht auch erst Monaten danach.

Aber das ist bei Experimenten ja immer so ist. Sonst wären es keine Experimente.


Zum Autor
Sebastian Haak arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als freier Journalist in Thüringen. Der promovierte Historiker berichtet insbesondere über die Thüringer Landespolitik. Er schreibt unter anderem für Freies Wort, die Thüringische Landeszeitung und die Deutsche Presse-Agentur.
Foto: ari