Die Qual der Neu-Wahl
Bei der Regierungsbildung in Thüringen müssen die Beteiligten nun auch noch damit umgehen, dass die Ampel-Koalition im Bund zerbrochen ist und die Bundesrepublik deshalb vor vorgezogenen Neuwahlen zum nächsten Bundestag steht. Macht der Bruch von Berlin es den Brombeer-Verhandlern schwerer oder leichter? Einer ihrer aktuellen Texte jedenfalls liest sich wie ein Flehen.
Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.
von Sebastian Haak
Es ist jetzt also wirklich so, wie die bösesten Zungen es immer behaupten: In Thüringen geht es immer noch schlimmer, als man denkt. Wobei „schlimmer“ nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre „unvorhergesehener“, „dramatischer“, „bizarrer“ meint. Jedenfalls ist es nun wieder genau so gekommen: Nachdem die Landtagswahl vom 1. September ein maximal kompliziertes Ergebnis hervorgebracht hat, ist nun auch noch die Ampel-Koalition im Bund zerbrochen.
Wie in allen anderen bundesdeutschen Ländern auch wird es deshalb nun auch in Thüringen bald wieder eine weitere, große, wichtige Wahl geben. Weshalb im Freistaat schon wieder Wahlkampf ist. Nicht irgendwann. Sondern jetzt. Immerhin hat der Bundestagswahlkampf spätestens in dem Moment begonnen, da sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Ex-Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) vor wenigen Tagen das erste Mal öffentlich und heftig gegenseitig für das Aus der einst selbsternannten Fortschrittskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen verantwortlich gemacht hatten.
Was bedeutet der Bundestagswahlkampf für die Regierungsbildung in Thüringen?
Das freilich führt uns direkt zur Frage, was das Aus der Bundes-Ampel und der laufende Bundestagswahlkampf für die Bildung einer neuen Thüringer Landesregierung beziehungsweise hiesigen Regierungskoalition bedeuten, also für die weiteren Verhandlungen zur Bildung eines Brombeer-Bundes, der sich als nichts weniger als neue Fortschrittskoalition in Vorbereitung versteht, wenn man die großen und abstrakten, dafür aber umso verheißungsvolleren Worte richtig deutet, die drei Spitzenleute dieses potenziellen Bündnisses zuletzt in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung gemeinsam fanden.
Davon, dass es in der Politik um „Pragmatismus“ und nicht „um ideologische Grabenkämpfe“ gehen müsse, schreiben da der CDU-Spitzenmann Mario Voigt, der Ober-Sozialdemokrat Georg Maier und die Thüringer BSW-Frontfrau, Katja Wolf. Sie fabulierten von einer „Kultur des Ermöglichens“ und versteigern sich zu Allgemeinplätzen wie: „Es ist Zeit, das Leben der Bürgerinnen und Bürger spürbar zu erleichtern.“ Mehr noch als sein Inhalt war aber freilich vor allem die Tatsache, dass es diesen gemeinsamen Text überhaupt gibt, dessen eigentliche Botschaft. Eine Botschaft nach Berlin.
Im politischen Erfurt jedenfalls werden derzeit vor allem zwei mögliche Antworten auf die Frage zu den Auswirkungen der vorgezogenen Neuwahlen im Bund auf die Regierungsbildung in Thüringen diskutiert. Beide haben natürlich ihre Punkte, ihren Charme. Aber ich glaube, eine übersieht, wie polarisiert Deutschland ist und welche Rolle Thüringen bei dieser Polarisierung spielt – und ist deshalb nicht richtig.
Entweder erleichtert das Ampel-Aus die Brombeer-Koalition in Thüringen
Antwortmöglichkeit eins: Das Ampel-Aus und die Neuwahl im Bund werden die Brombeer-Regierungsbildung in Thüringen erleichtern, weil es jetzt für die regierungsbeteiligungskritische BSW-Bundesvorsitzende Sahra Wagenknecht ebenso wie für die Bundesvorsitzenden anderer Parteien eindeutig wichtigere Dinge zu tun gibt, als sich über Thüringen Gedanken zu machen. Oder über ein, zwei, drei symbolische Sätze in Präambeln oder Rumpftexten von Koalitionsverträgen.
Für diese These spricht, dass die Bundespolitik seit Tagen in hellem Aufruhr ist, weil nunmehr verschiedene Wahltermine diskutiert wurden und es inzwischen – maßgeblich getrieben durch eine Äußerung der Bundeswahlleiterin – eine lebhafte Debatte darüber gibt, ob es im wirtschaftlich stärksten Land Europas, einer der größten Volkswirtschaften der Erde und einem durch und durch demokratischen Staat wie der Bundesrepublik möglich ist, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag so zu organisieren, wie es das Grundgesetz verlangt – innerhalb von wenigen Wochen nach einer verlorenen Vertrauensfrage eines Bundeskanzlers nämlich. Oder ob vielleicht das in Deutschland verfügbare Papier dafür nicht ausreicht? Oder ob vielleicht nicht genügend Wahlräume aufzutreiben sein werden? Oder ob vielleicht die Staatsdiener in den Kommunen mit dieser Aufgabe überfordert sein könnten?
Oder die Neuwahl des Bundestages erschwert die Regierungsbildung in Thüringen
Antwortmöglichkeit zwei: Das Ampel-Aus und die Neuwahl im Bund werden die Brombeer-Regierungsbildung in Thüringen erschweren, weil jetzt eben Wahlkampf ist und Wahlkämpfe vieles sind, aber bestimmt nicht Zeiten, in denen Parteien besonders kompromissfreudig sind. Immerhin versuchen sie Wähler mit ihren parteipolitisch-reinen Inhalte zu überzeugen. Nicht mit der Aussicht darauf, dass sie bald mit anderen politischen Kräften Kompromisse werden eingehen müssen.
Für diese These sprechen ebenso die politischen Erfahrungen der Vergangenheit wie auch aktuelle Aussagen von Spitzenvertretern der deutschen Bundespolitik. Kaum nämlich war das Ampel-Aus vollkommen, da erklärten politisch Verantwortliche wie Lindner oder auch der CSU-Vorsitzende Markus Söder bereits, welche Koalitionsoptionen auf Bundesebene demnächst schon mal mit ihnen alles nicht gehen würden, weil es angeblich inhaltlich-programmatisch oder auch menschlich-persönlich überhaupt nicht passe. Plus, dass niemand mit der AfD irgendwie zusammenarbeiten will. Und mit dem BSW eigentlich auch nicht. Die Liste derer, die miteinander angeblich könnten oder dürften, ist derzeit viel, viel kürzer als die Liste derer, für die das nicht zutrifft.
Die Wahrscheinlichkeit für die Brombeer-Koalition ist gesunken
In der Abwägung all der Pros und Cons dieser beiden Antwortmöglichkeiten und angesichts dessen, wie ich Politik nun schon seit ungefähr zwei Jahrzehnten beobachte, würde ich sagen, dass die zweite These eher der Realität in Thüringen in diesen Tagen entspricht: Die vorgezogenen Neuwahlen zum nächsten Deutschen Bundestag machen die Koalitions- und Regierungsbildung in Thüringen noch mal schwieriger, als sie ohnehin schon ist. Was heißt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass im Freistaat demnächst eine Brombeer-Koalition regiert noch mal ein bisschen gesunken ist. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, dass noch was wird. Aber Voigt, Maier und Wolf müssen sich noch mehr anstrengen als für sie bisher absehbar war, damit das was wird.
Immerhin wird in den nächsten Tagen und Wochen nicht nur Wagenknecht inmitten eines laufenden Bundestagswahlkampfes alles dafür tun, dass ihr eine aus ihrer Sicht zu lasche Thüringer Formulierung für den Themenkomplex Krieg und Frieden bei ihrem Wählerklientel den Vorwurf einbringt, auch ihre Partei sei nicht besser als alle anderen, wenn es darum gehe, Dienstwagen für Prinzipien einzutauschen. Und auch die Bundesspitzen von CDU und SPD werden gerade in einem Bundestagswahlkampf keinerlei Interesse daran haben, dass ihre hiesigen Landesverbände irgendwie vor einer Frau einzuknicken scheinen, die sie in den vergangenen Jahren mehr als einmal als bedingungslose Russland-Jüngerin kritisiert haben.
Ein Flehen in Richtung Bundes-Parteien nach Kompromissbereitschaft auf Länderebene
Den Text von Voigt, Maier und Wolf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darf man deshalb nicht nur als scharfe Zurückweisung der Einmischungen von Wagenknecht aus den vergangenen Wochen auf die Regierungsbildung in Thüringen verstehen. Sondern auch als ein Flehen in ihre Richtung; und auch in Richtung der Bundes-CDU und der Bundes-SPD, trotz des laufenden Wahlkampfes im Bund kompromissbereit zu sein und sich nicht auf Parteiprogrammatiken zurückzuziehen, sondern eben „Pragmatismus statt Ideologie“ walten zu lassen, wie die Überschrift des Gastbeitrages insinuiert.
Angesichts der Tatsache, dass Scholz unbedingt Kanzler bleiben, der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz unbedingt Kanzler werden und Wagenknecht im neuen Bundestag unbedingt mit so viel Macht wie möglich vertreten sein will, muss man aber daran stark zweifeln, dass dieser Text allzu großen Einfluss auf die Berliner Republik im Ganzen haben wird. Thüringen ist von der Bundeshauptstadt aus betrachtet eben doch nur Peripherie, ein Flächenland, in dem nicht einmal drei Prozent der deutschen Bevölkerung leben.
Die Regierungsbildung in Thüringen bleibt also eine Qual. Seit dem Ampel-Aus noch mehr als ohnehin schon.
Zum Autor
Sebastian Haak arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als freier Journalist in Thüringen. Der promovierte Historiker berichtet insbesondere über die Thüringer Landespolitik. Er schreibt unter anderem für Freies Wort, die Thüringische Landeszeitung und die Deutsche Presse-Agentur.
Foto: ari