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De facto geht es jetzt erst los

Noch vor Weihnachten hat Thüringen nun wirklich eine neue Landesregierung – dank einer ausgesprochen beweglichen CDU, ein bisschen Hilfe von BSW und SPD sowie eine Last-Minute-Einigung mit den Linken. Aber keine Angst: Es bleibt sehr spannend im Freistaat.

Bild: Stefan Petermann

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Sebastian Haak

Dies wird meine letzte Kolumne zumindest an dieser Stelle sein und ich will mit einem Geständnis anfangen: Es gab viele, viele Momente in den vergangenen Monaten, in denen ich nicht gedacht hätte, dass das kommen wird, was CDU-Leute manchmal leise öffentlich und manchmal lauter hinter verschlossenen Türen seit der Landtagswahl vom 1. September immer wieder gesagt haben: Dass es noch im Dezember eine neue Thüringer Landesregierung geben würde, mit einem Ministerpräsidenten Mario Voigt an der Spitze. Natürlich haben diese CDU-ler das auch gesagt, um zu versuchen, einen gewissen Spin in die Berichterstattung über die Regierungsbildung zu bekommen. Zumindest einige von ihnen haben das aber auch aus dem Grunde ihres Herzens geglaubt. Trotz aller Widrigkeiten. Trotz aller Aussagen des Thüringer SPD-Vorsitzenden Georg Maier, der die Gespräche zwischen CDU, BSW und SPD mehrmals schon beinahe für gescheitert erklärt hatte.

Und was soll ich sagen: Diese CDU-Leute haben offenkundig Recht gehabt.

Nun kann ich zu meiner Verteidigung sagen, dass insbesondere die Union, aber auch das BSW in den vergangenen Tagen eine Kompromissfähigkeit gezeigt haben, die im politischen Raum wirklich außergewöhnlich ist. Das darf man gut oder schlecht finden, je nach persönlicher Befindlichkeit.

Überraschend beweglich haben sich die Parteien gezeigt

Auf dem BSW-Parteitag, auf dem der Einstieg in die Brombeer-Koalition beschlossen worden war, wurde die CDU beispielsweise mehr als einmal Partei der „Kriegstreiber“ diffamiert. Ohne, dass die Landes- und Bundesspitze des BSW nach solchen Anwürfen laut „Halt!“ geschrien hätte. Eher im Gegenteil. Dennoch ist das BSW in die Koalition mit CDU und SPD gegangen.

Beweglicher noch die CDU, die für die erneute Machtübernahme im Land zuletzt gleich mehrere Positionen geräumt hat, die für sie in den vergangenen Jahren fast schon heilig waren. Die bisherige Rechtsauffassung der Partei, dass in einem dritten Wahlgang der Ministerpräsidentenwahl ein Einzelbewerber mehr Ja- als Nein-Stimmen brauche, um gewählt zu werden, wurde für eine Regierungsbildung – nur für alle Fälle – ebenso über Bord geworfen, wie alle frühere Skepsis gegenüber Menschen, die eng in SED-Strukturen eingebettet waren: Tilo Kummer – der Ex-Linke und nun BSW-Mann – durfte unter Rot-Rot-Grün nie Minister werden – weil er im Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ Dienst tat, das dem DDR-Ministerium der Staatssicherheit unterstellt war. Im Kabinett Voigt ist er nun Umweltminister.

Noch weitreichender ist, dass die Brombeer-Koalition beziehungsweise die CDU unmittelbar vor der Ministerpräsidentenwahl am vergangenen Donnerstagvormittag bereits eine Sache ad absurdum geführt haben, die sie in ihrem eigenen Koalitionsvertrag festgehalten haben, der erst am Mittwochnachmittag vir einer Woche unterzeichnet worden war. Dort heißt es bekanntermaßen: „Es bedarf keiner gesonderten Vereinbarung mit der Linken, das schließt Gespräche zu Sachfragen nicht aus.“ Das ist ein Satz, auf den in den Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen insbesondere die Union gedrängt hatte.

Ein Parlamentarisches Pflichtenheft bindet die Linken mit ein

Im Tausch für Linke-Stimmen bei der Ministerpräsidentenwahl gibt es nun aber genau eine solche schriftliche Vereinbarung, die sich „Parlamentarisches Pflichtenheft für die 8. Wahlperiode des Landtags in Thüringen“ nennt – vereinbart zwischen CDU, BSW und SPD sowie den Linken nicht mal 24 Stunden vor dem ersten Wahlgang dieser Abstimmung.

Anders ausgedrückt: Die Koalition, deren Vertreter gerne von sich behaupten, sie hätten eine De-facto-Mehrheit im Landtag, weil sie dort über 44 von 88 Stimmen verfügen, ist nun eine De-facto-Duldung mit den Linken eingegangen. Machtpraktisch selbstverständlich der einzig sinnvolle Weg, wenn sich das Brombeer-Bündnis nicht von den Stimmen der AfD abhängig machen will.

Angesichts dieser Flexibilität gerade auch im Umgang mit dem eigenen Koalitionsvertrag muss man natürlich gespannt sein, welche anderen Punkte aus diesem Papier demnächst noch ziemlich bedeutungslos sein werden. Vieles von dem, was dort drin steht, werden die Linken ohnehin kaum mittragen können oder wollen oder sich nur für politische Zugeständnisse an anderer Stelle teuer abverhandeln lassen. So, wie die CDU der rot-rot-grünen Minderheitskoalition viele Zugeständnisse abverhandelt hat, die gegen die DNA des ehemaligen Bündnisses aus Linke, SPD und Grüne verstoßen haben.

Ein Streitthema dürfte die schärfere Migrationspolitik werden

Beispiel schärfere Migrationspolitik: Im Brombeer-Koalitionsvertrag mag zwar stehen, dass das Bündnis „eigene Abschiebehaftplätze für Ausreisepflichtige schaffen“ will. Und vielleicht findet die Koalition sogar einen Weg, die Plätze ohne eine Beteiligung des Landtages einzurichten. Über eine Verordnung durch Thüringens neue Ministerin für Justiz, Migration und Verbraucherschutz, Beate Meißner (CDU), etwa. Könnte sein. Doch das Geld zum Unterhalt dieser Plätze müsste der Landtag trotzdem freigeben, über ein Haushaltsgesetz, das die Brombeer-Koalition nicht ohne eine Landtagsmehrheit verabschiedet bekommt, wofür sie wiederum mit den Linken reden muss, die die Sache mit den Abschiebehaftplätzen für eine ganz schlechte Idee halten. Aber, eben in den Worten Maiers unmittelbar nach der Ministerpräsidentenwahl und der Billigung des „Parlamentarisches Pflichtenhefts“ durch CDU, BSW, SPD und Linke: „Natürlich hat die Linkspartei jetzt Einfluss, das kann man gar nicht wegdiskutieren.“

Freilich hätten die Linken diesen Einfluss auch ohne dieses Pflichtenheft, schon durch die komplizierten Mehrheitsverhältnisse im Landtag. Die Macht des Faktischen und so. Aber mit der De-facto-Duldung ist dieser Einfluss vielleicht noch ein bisschen größer und vor allem ist er formaler. Einmal im Monat werden sich die parlamentarischen Geschäftsführer und vielleicht auch die Fraktionsvorsitzenden von CDU, BSW und SPD sowie Linke nun in einem „3plus1-Format“ treffen. „Das Format dient der frühzeitigen und regelmäßigen Einbindung in Vorhaben, um Mehrheiten und Kompromisse zu erwirken und diese gegebenenfalls unter Beteiligung von Fachpolitikern zu vertiefen“, heißt es im Pflichtenheft.

Regieren bedeuteut mehr, als den Ministerpräsidenten zu wählen

Was ich mit diesem Verweis auf diese schon gezeigte Flexibilität und die nun bald noch nötigere Flexibilität vor allem sagen will, ist das: Regieren ist viel mehr als einen Ministerpräsidenten zu wählen oder wählen zu lassen und Minister zu ernennen. Es bedeutet gerade angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Landtag Verhandeln, Verhandeln, Verhandeln, schmerzhafte Kompromisse machen und die dann auch noch durch eine Verwaltung bringen, die allzu oft auch ein Eigenleben hat.

Für das Brombeer-Bündnis geht die Arbeit deshalb jetzt erst so richtig los und all das, was sich in den vergangenen Monaten schon an Hindernissen gezeigt hat, wird – das ist wieder so eine Vorhersage von mir – die Arbeit dieses Bündnisses ebenso begleiten, wie es sie erschweren wird: Die Notwendigkeit, sich mit den Linken zu einigen, Zwischenrufe aus der BSW-Bundesspitze um Sahra Wagenknecht, persönliche Animositäten und Befindlichkeiten… Die Liste ließe sich fortsetzen.

Ich bleibe deshalb sehr gespannt, ob es wirklich fünf Jahre dauern wird, bis ich an dieser Stelle vielleicht wieder eine Regierungsbildung in Thüringen kommentieren darf. Auch größere Umbildungen von Koalitionen und Kabinetten sind ja in gewisser Weise Regierungsbildungen…

Sie und ich, wir werden zusehen.


Zum Autor
Sebastian Haak arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als freier Journalist in Thüringen. Der promovierte Historiker berichtet insbesondere über die Thüringer Landespolitik. Er schreibt unter anderem für Freies Wort, die Thüringische Landeszeitung und die Deutsche Presse-Agentur.
Foto: ari