Bilder von der Wahl des Landtagspräsidenten
Politik, Medien und wir, die Wählerinnen und Wähler, bilden eine Interessengemeinschaft. Unter welchen Bedingungen gestaltet sich diese? Was bringt sie hervor? Ein Erklärungsversuch am Beispiel der Wahl zum Präsidenten des Thüringer Landtags am 26. September 2024.

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.
von Stefan Petermann
Eine Viertelstunde vor Zwölf strömen nach und nach die Abgeordneten in den Plenarsaal des Thüringer Landtags. Mehrere Fraktionen erscheinen im Verbund, haben sich zuvor in Listen eingetragen und damit ihre Anwesenheit festgestellt. Die Kameras schwenken auf die Spitzenkandidaten, die Medienschaffenden eilen in das Parlamentsrund und bringen ihre Maschinen in Anschlag. Und genau dann scherzt ein Parteivorsitzender mit dem Nebenmann, und genau dann erstarrt ein anderer wie zufällig für fünf Sekunden in der Bewegung, und eine Kandidatin schwebt im blauen Hosenanzug die Treppenstufen hinab. Weil sie wissen, dass Fotos von ihnen gebraucht werden.
Fotos für mich, Fotos für uns, den Dritten im Bunde, Fotos für die Wählerin und den Wähler, die Auskunft einfordern, gerade visuelle Informationen. Wir wollen möglichst bald nach Entstehung die Fotos in jenen Kanälen sehen wollen, die wir für unsere Informationsaufnahme bevorzugt nutzen. Wir wollen davon angesprochen, aufgeklärt, emotionalisiert werden. Wir haben bestimmte Erwartungen an die Präsentation von Politik, Vorstellungen, die wir auch erfüllt sehen wollen.
Symbolbilder
Allen ist das bewusst. Deshalb gibt es in den Fraktionen auch die Hinweise, dass jede Regung im Plenarsaal die Kameras klicken lassen könnte; ein Lachen, ein durchgestreckter Rücken, eine gehobene Hand wird so schnell zum Symbolbild eines politischen Vorgangs, obwohl einfach nur ein Rücken gestreckt wurde.
Was wird zum Symbolbild des heutigen Tages? Immer wieder bittet der Alterspräsident die parlamentarischen Geschäftsführerinnen zur Besprechung vor ans Pult. Der Landtagsdirektor sekundiert. Das ist das Bild: Einige am Pult diskutieren, die Mehrzahl wartet ab. In den dadurch entstehenden Pausen wählen Fotografen aus den eben gemachten Fotos aus, bereiten sie in aller Kürze auf und laden sie zu den Nachrichtenagenturen hoch. Aus den taufrischen Motiven suchen Onlinemedien aus und setzen sie auf ihre Startseiten: der schweigende Alterspräsident mit Uhrenkette, das Bild eines schmunzelnden Parteivorsitzenden, die diskutierenden Geschäftsführerinnen am Pult.
Drinnen / Draußen
Währenddessen im Saal ein kollektives Tippen auf Handys. Das kommt ja auch noch dazu: Jedem der Abgeordneten stehen Apparate zur Verfügung, die vom Inneren des Landtags die Kommunikation nach draußen ermöglichen. 88 mögliche Kanäle, die in Echtzeit einordnen, 88 zusätzliche Perspektiven. Auch das Publikum, auch die Medienschaffenden schauen, auch sie teilen. Die dominierenden Hashtags sind »Thüringen« und »Chaos«. Es fallen Worte wie »Machtergreifung«, »Showdown« oder »Putsch«. Die Anwesenden checken soziale Netze.
Eine weitere Rückkopplung: Drinnen im Saal wird verfolgt, wie das Draußen das Drinnen im Saal bewertet. Die eigenen Blasen werden gescannt und die größeren Kanäle ebenso, im Blick behalten, wie Kommentare sich kommentieren, private Nachrichten persönliche Anregungen geben, Links gesetzt werden. Von draußen fließt es nach drinnen, reagiert mit den Abgeordneten, den Medienschaffenden, dem Publikum in Echtzeit, führt zu Reaktionen, die wiederum nach außen fließen.
Wie erklären
An diesem 26. September geht es im Kern um einen komplexen Vorgang, einen abstrakten Streitgegenstand. Was bedeutet es, eine Änderung der Tagesordnung beantragt zu haben? Ab wann ist ein Landtag beschlussfähig? Unter welchen Bedingungen gilt eine Geschäftsordnung? Wobei hat die Verfassung Vorrang? Es sind rechtliche Fragen, die in einem Regelwerk festgelegt sind und, so scheint es an diesem Tag, doch verschiedentlich interpretiert werden können. Wie gelingt es, das Technokratische das doch so exemplarisch und notwendig ist für eine parlamentarische Demokratie, so zu erklären, dass es nicht zu stark vereinfacht? Aber zu kleinteilig soll es auch nicht werden. Wir, die Betrachterinnen, die nicht in den Paragrafen zuhause sind, aber interessiert sind am Räderwerk der Demokratie, wollen informiert werden und dennoch nicht nach zwei Absätzen in einem Text oder drei Antworten in einem Interview wegklicken und weiterscrollen.
Und wie lässt sich die Atmosphäre, die sich an diesem Tag für mich an vielen kleinen Beobachtungen festmacht, angemessen verdeutlichen: Das Klopfen der Handflächen auf die Abgeordnetentische klingt wie ein Schlagen von Kriegstrommeln. Eine Fraktion klatscht in die Wortbeiträge anderer Abgeordneter hinein, um so deren Sprechen zu übertönen. So scheint es mir: Eine Institution, die nicht beliebig gehandhabt werden kann, wird an diesem 26. September beliebig. Sie fällt auseinander, ihr Sprechen, ihre Regeln. Etwas zerstört sich gerade.
Aus der Gegenwart
Am späteren Nachmittag des 26. Septembers die wievielte Unterbrechung. Der erwartete Antrag, den Verfassungsgerichtshof in Weimar anzurufen. Der Alterspräsident vertagt auf Samstagvormittag. Gegen Fünf ist der Landtag fast wieder leer. Die Bilder sind gemacht, die Stative nun abgebaut, die Einschätzungen gegeben. Dennoch geht die Bewertung des gerade Geschehenen weiter. Analysen werden geschrieben, Vorhersagen für die Entscheidung des Gerichtshofs getroffen, die Bewegtbilder in die Abendnachrichten eingefügt. Der Parteivorsitzende einer Fraktion postet ein Video, in dem er die Unabhängigkeit des Thüringer Verfassungsgerichtshofs anzweifelt, schafft ein stark diskutiertes Narrativ auf seinen eigenen Social-Media-Kanälen zu seinen eigenen Bedingungen.
Das Geschehene fällt aus der Gegenwart in die Vergangenheit, wandert ins Archiv politischer Ereignisse. Die vielen Eindrücke reduzieren sich auf ausgesuchte Erinnerungsfragmente. Von den Bildern, die im Zusammenspiel Politik/Medien entstanden, bleiben welche im kollektiven Langzeitgedächtnis der Wählerinnen und Wähler: So war dieser 26. September, als sich der Thüringer Landtag zu konstituieren versuchte und scheiterte.

Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä