Barrierefrei wählen – geht doch ganz einfach, oder etwa nicht? Momentaufnahmen im Superwahljahr 2024
Im Nachgang der Wahl zieht der Thüringer Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen eine ernüchternde Bilanz: Die persönliche Stimmabgabe ist noch immer nicht selbstverständlich. Seit mehreren Jahren stagniert die Quote der barrierefreien Wahllokale in Thüringen.
Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.
von Katharina von der Gönna
Herr V. aus der kleinen Thüringer Gemeinde B. im Weimar Land ist mobilitätseingeschränkt, das heißt, er sitzt im Rollstuhl, wodurch ihm der Zugang zum Wahllokal am Tag der Kommunalwahl zumindest erschwert, wenn nicht gar unmöglich war. Auch ältere Menschen mit Einschränkungen und Rollator kommen vielerorts nicht problemlos hinein ins Wahllokal. Sie werden durch eine Schwelle, Treppenstufen oder einen achtlos abgestellten Schrank auf dem Gang zum Wahlraum behindert.
Kein Problem für Herrn V., er beantragt die Briefwahl, da er ohnehin am 26. Mai in Urlaub sein wird. Doch, jenes für ihn nicht unbedeutende Amt des Orteilrates ist in den Briefwahlunterlagen nirgends zu finden. Sein Orteilrat kann nur in Präsenz gewählt werden! Und so wird Herr V. schon wieder in seinen demokratischen Rechten eingeschränkt. Entweder er ist fit und schafft den Zugang zum Gebäude oder er kann seine Stimme bei der Ortteilratswahl nicht abgeben.
Absurd, aber Realität im Thüringen 2024. Und sicher – so steht zu vermuten – auch über die Thüringer Landesgrenzen hinaus. Die persönliche Stimmabgabe ist noch immer nicht selbstverständlich. Seit mehreren Jahren stagniert die Quote der barrierefreien Wahllokale in Thüringen: Nur jedes zweite Gebäude, das von der jeweiligen Kommune für die Wahl bestimmt wird, ist annähernd barrierefrei.
Pragmatische Lösung: Mobile Wahlkabine vor dem Gebäude
Im Fall von Herrn V. schaltete sich der TLMB ein und die Gemeinde fand eine pragmatische Lösung.
Man schilderte aus, stellte Wahlhelfer ab und setzte eine Wahlkabine vor das Gebäude. Auch die Wahlordnung wird im Stadtrat noch einmal Thema sein.
Lichtblicke und Schattenseiten
Es gibt durchaus auch positive Erfahrungen im Wahljahr 2024, wie Betroffene berichten: Zwei Mitglieder aus dem Lebenshilfe-Rat Thüringen, die beide in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) tätig sind, wollen ihre Erfahrungen bei der Kommunalwahl, die in Thüringen am 26. Mai stattfand, teilen.
Zum einen Constanze Borchert, die in einer WfbM des Lebenshilfe-Werks Weimar/Apolda e.V.in Kromsdorf arbeitet und ihren Träger im Landesbehindertenbeirat vertritt: „Ich habe bei der Kommunalwahl mitgemacht. Ich konnte ohne Probleme meine Wahlassistenz mit in die Wahlkabine nehmen. Das war mein Vati. Im Wahllokal gab es keine Stufen, es war ebenerdig. Das war gut für Rollstuhlfahrer und Menschen mit einem Rollator. Es wäre gut, wenn auf den Wahlzetteln noch Fotos von den jeweiligen Personen wären, damit man gleich weiß wer es ist.“
„Es wäre gut, wenn auf den Wahlzetteln noch Fotos von den jeweiligen Personen wären, damit man gleich weiß wer es ist.“
Constanze Borchert
Foto: Claudia Müller, Lebenshilfe Thüringen
Und auch Peter Schachtschneider, Beschäftigter im Lebenshilfe Gera e.V. zieht eine positive Bilanz, sieht aber Verbesserungsbedarf: „Ich war wählen! Der Zugang zum Wahllokal war barrierefrei. Das war sehr gut. Die Schrift auf den Wahlzetteln war sehr klein. Gerade die Namen bei der Stadtratswahl waren sehr schwer zu lesen.“
Trotz dieser beiden positiven Beispiele weist Claudia Müller, Mitarbeiterin der Geschäftsführung der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung – Landesverband Thüringen e.V. und Assistentin von Frau Borchert daraufhin, dass es in ihrem Gremium auch Mitglieder gab, die aus den folgenden Gründen nicht zur Wahl gegangen sind.
„Die Wahllokale waren nur zum Teil barrierefrei erreichbar. Ein Rollstuhlfahrer aus unserem Gremium hatte keine Probleme in das Wahllokal zu gelangen; in einem anderen Ort wurde jedoch beobachtet, dass eine Rollstuhlfahrerin andere Menschen bitte musste jemanden zu holen, der ihr beim Hineinkommen ins Wahllokal hilft.“ Für Viele, so Borchert, sei auch die Wahlbenachrichtigung aufgrund der kleinen Schrift schwer verständlich. Zudem sei auch die Schrift auf den Wahlzetteln sehr klein, was für einige eine Barriere darstelle.
„Ich war wählen! Der Zugang zum Wahllokal war barrierefrei. Das war sehr gut. Die Schrift auf den Wahlzetteln war sehr klein. Gerade die Namen bei der Stadtratswahl waren sehr schwer zu lesen.“
Peter Schachtschneider
Foto: Claudia Müller, Lebenshilfe Thüringen
Hier klingt bereits das Thema Kommunikation an: Neben der mangelnden Barrierefreiheit der Wahllokale ist der im übertragenen Sinne versperrte Zugang zu den Informationen das Problem: Das Angebot an digital und sprachlich barrierefreien Informationsquellen ist sehr überschaubar. Bisherige Prüfungen zur Barrierefreiheit von Internetseiten öffentlicher Stellen in Thüringen ergaben, dass „keine der durchgeführten Prüfungen ohne Mängelfeststellungen blieb“[1]. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Informationsangebote der Parteien zu politischen Programmen ebenfalls nicht digital barrierefrei sind.
Angebote, die sprachlich barrierefrei sind, also vor allem in Leichter Sprache verfasst sind, liegen mittlerweile zwar hinsichtlich des Wahlvorgangs sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene vor. Die Wahlprogramme der Parteien selbst sind jedoch meist entweder nicht in Leichter Sprache verfügbar, nur in Kurzfassung verfasst oder aber digital nicht barrierefrei[2]. Der Wahl-O-Mat wird bisher nicht in leichter Sprache angeboten.
Eine wichtige Verbesserung ist der Umstand, dass Assistenzhunde per neuer Verordnung im Wahllokal und sogar in der Wahlkabine zugelassen sind. Ebenso wurden die Kreiswahlleiterinnen und -wahlleiter im Vorfeld der Wahlen vom Landeswahlleiter darüber informiert, dass die persönlichen Assistenzpersonen den gesamten Wahlvorgang begleiten dürfen.
Dieses Fazit zieht der Landesbeauftragte Joachim Leibiger
„Wählen ist Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe. Wird die Barrierefreiheit nachlässig behandelt, so entsteht schnell der Eindruck, dass auf die gleichwertige Stimme von Menschen mit Behinderungen weniger Wert gelegt wird.“, betont TLMB, Joachim Leibiger.
Die umfassende Herstellung von Barrierefreiheit bleibt auch im Bereich der politischen Teilhabe eine zentrale Voraussetzung und eine wichtige Aufgabe für die Zukunft.
[1] vgl. den Bericht der Thüringer Überwachungsstelle für 2024, S. 13
[2] vgl. die Angebote zur Europawahl
Zur Autorin:
Katharina von der Gönna ist Mitarbeiterin des Thüringer Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen