#09 Das unterschätzte Amt
Die Vizepräsidentschaft der USA ist ein Amt mit vergleichsweise wenig medialer Beachtung, doch die Nähe zur Präsidentschaft der Vereinigten Staaten ist groß – und der Einfluss ist über die Jahre gewachsen.
Zusammen mit dem Präsidenten wird im November auch das Amt der Vizepräsidentin1 neu gewählt. Dass auf diesem Amt nicht immer der gleiche Fokus liegt, wie auf der Präsidentschaft ist üblich, verkennt aber die Bedeutung dieses Postens. Schließlich ist die Vizepräsidentin in aller Regel die letzte Person, mit der der Präsident spricht, bevor er eine Entscheidung fällt – in seltenen Fällen trifft die Vizepräsidentin sie sogar selbst. Das Amt hat damit großen Einfluss auf US-Politik. Das war nicht immer so.
Die Vizepräsidentin als Wahlkämpferin und Frau fürs Grobe – in Maßen!
Wie aktuell zu beobachten ist, spielt die Vizepräsidentin im Wahlkampf eine wichtige Rolle, auch wenn man sich in der Forschung uneins ist, wie groß der Einfluss der Vizepräsidentin auf den Ausgang der Wahl tatsächlich ist. Die Vizepräsidentin muss vor allem darauf achten, die Chancen nicht zu schmälern, gewählt zu werden und kann gleichzeitig auch eine (verbale!) Angriffsfunktion einnehmen, die der Präsident eher nicht einnehmen sollte, um weiterhin als über den Dingen stehender Vater der Nation wahrgenommen zu werden. Harris nutzt in der Hinsicht insbesondere ihren Standunkt zur Abtreibung, um die Republikaner scharf anzugreifen und sie als Gegner der Freiheit zu portraitieren.
Tritt die Vizepräsidentin die direkte Nachfolge des Präsidenten ihrer eigenen Partei an (wie es bei Harris der Fall ist) und ist damit Kandidatin während sie selbst im Amt ist – was rechtlich ohne Probleme möglich ist – muss sie außerdem darauf achten, ihren eigenen Präsidenten nicht zu sehr anzugreifen, sie ist ja schließlich Teil der Administration. Auf der anderen Seite muss sie sich aber auch profilieren, um zu erklären, warum es mit ihr als Präsidentin noch besser werden wird. – Nicht immer eine leichte Aufgabe!
Indem sie eine bestimmte Wählergruppe, etwa aufgrund von Geschlecht, Glauben, etc. repräsentiert, die durch den Präsidentschaftskandidaten eher weniger repräsentiert wird, kann sie ebenfalls dazu beitragen, das gewünschte Ergebnis am Wahltag zu erreichen. Der republikanische Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, J.D. Vance, betont deshalb auch immer wieder, dass er aus dem Mittleren Westen aus „normalen“ Verhältnissen kommt und seine Mutter mit Drogenproblemen zu kämpfen hatte. 2016 schrieb er dazu das Buch „Hillbilly Elegie“, das genau dieses Narrativ bedient.
Zusätzlich kann die Vizepräsidentin eher heikle Themen anschneiden, die dem Präsidenten schaden könnten. Die Reaktion insbesondere der Wählerinnen auf diese Themen kann dann dynamisch genutzt werden: Ist das Thema populär, war es natürlich mit dem Präsidenten abgesprochen. Ist die Reaktion aber negativ, war das nur ein Vorstoß der Vizepräsidentin und die Administration des Präsidenten vertritt eine andere Auffassung. Besonders deutlich wurde diese Funktion, als Vizepräsident Joe Biden 2012 die Ehe für alle ins Gespräch brachte (Issenberg, 2022).
Die Verfassung erwähnt die Vizepräsidentschaft nur am Rande
Das Amt der Vizepräsidentin gibt es seit Bestehen der USA. – Übrigens eine Besonderheit, nicht jede Präsidentielle Demokratie – wie es die USA ist – hat überhaupt eine Vizepräsidentschaft und dieser Posten war während der Ausarbeitung der Verfassung eher ein Anhängsel, was sich auch in dem Dokument widerspiegelt. Im Wesentlichen hat die Vizepräsidentin danach zwei Funktionen und kaum Machtfülle: Die Präsidentschaft des Senats (und den damit verbundenen Aufgaben, beispielsweise die entscheidende Stimmabgabe, sollte es zu einem 50:50 Patt im Senat kommen), sowie die Amtsnachfolge, falls der Präsident sein Amt nicht mehr ausüben kann. Vorübergehend war Kamala Harris deshalb als erste Frau am 19. November 2021 „Acting President“, vertrat damit also Joe Biden als Präsident, als dieser unter Narkose eine Koloskopie über sich ergehen ließ.
Wer will schon Vizepräsidentin werden?
Die beiden erwähnten Aufgaben waren bis ins 20. Jahrhundert die Hauptaufgaben aller Vizepräsidenten (es waren bis Kamala Harris ausschließlich Männer) und es gab deshalb auch nur relativ wenig Anreiz, sich auf das Amt zu bewerben. Thomas Marshall, Vizepräsident von Woodrow Wilson (1913-1921) prägte in diesem Zusammenhang folgendes Zitat: „Once there were two brothers. One ran away to sea; the other was elected vice president of the United States. And nothing was heard of either of them again“ (Shafer, 2021). Aus seiner Sicht ist das Amt also irrelevant, obwohl er selbst Vizepräsident war.
Ähnlich kurios scheint es heute, dass bis zur Einführung des 25. Zusatzartikels zur Verfassung im Jahr 1967, Vizepräsidentschafts-Posten nicht nachbesetzt wurden. Trat ein Vizepräsident die Amtsnachfolge des Präsidenten an oder starb selbst, gab es bis zum Ende der Legislaturperiode einfach niemanden, der das Amt ausfüllte. So hatte Kennedys Nachfolger, Lyndon B. Johnson, zwei Jahre lang keinen Vizepräsidenten.
Die Macht der Vizepräsidentin ist über die Jahre gewachsen
Diese Vernachlässigung des Amtes änderte sich allerdings spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts mit Walter Mondale, Vizepräsident von Jimmy Carter. Die beiden vereinbarten in einem Brief, dass Mondale ein wichtiger Bestandteil der Carter-Administration sein würde (Brower, 2021). Dies sollte den Aufstieg der Vizepräsidentschaft begründen, der im Laufe der Zeit durch die Präsidenten immer mehr Aufgaben zugewiesen wurden – wenn auch nur inoffiziell, die einzig offiziell verbrieften Aufgaben bleiben bis heute die in der Verfassung genannten.
Einige dieser zusätzlichen Aufgaben sind ganz wörtlich zu nehmen, die sogenannten Line-Assignments: Aufgaben, die vom Präsidenten direkt an die Vizepräsidentin gegeben werden, um die sich die Vizepräsidentin dann federführend kümmert. Joe Biden wurde beispielsweise von Barack Obama auf die Krebsforschung angesetzt, da Biden aufgrund der Krebserkrankung seines Sohnes eine enge Verbindung zu dem Thema hat. Eines der Line-Assignments für Harris ist die Lösung der Frage, wie die Immigration an der südlichen Grenze der USA gehandhabt werden soll – ein Unterfangen, das keine nennenswerten Früchte getragen hat und plakatives Beispiel, warum Vizepräsidentinnen nicht immer glücklich über Line-Assignments sind, denn manche sind im Grunde unlösbar und der Präsident kann so unliebsame Aufgaben an die Vizepräsidentin abgeben.
Als Verbindungsperson zwischen der Exekutive (der Administration des Präsidenten) und der Legislative (dem Kongress) kommt der Vizepräsidentin laut Verfassung seit jeher eine Schlüsselrolle zu. Als Senatspräsidentin ist sie Teil beider Regierungsgewalten und kann hier als Vermittlerin agieren. Wie sehr das tatsächlich der Fall ist, kommt auf den jeweiligen Präsidenten an und ob er in dieser Hinsicht Gebrauch von diesen Funktionen der Vizepräsidentin macht; seit den 1970ern ist das aber regelmäßig der Fall. Besonders deutlich wurde das zu Zeiten von Obamas Präsidentschaft, in der Joe Biden mit seinen 36 Jahren Erfahrung als Senator half, Gesetze durch den Kongress zu bringen.
Wer Vizepräsidentin ist, hat großen Einfluss die US-Politik
Abgesehen von der Amtsnachfolge sowie der Senatspräsidentschaft, haben sich all diese Aufgaben innerhalb der letzten circa 70 Jahre entwickelt und sind nie kodifiziert worden. Präsidenten haben ihren Vizepräsident*innen größtenteils immer mehr Macht gegeben und ihnen nur wenig wieder entzogen – aus gutem Grund, schließlich verringert sich si die Arbeitsbelastung. Diese Abgabe funktioniert aber nur, wenn Präsident und Vizepräsidentin gut miteinander arbeiten können.
Zeitweise war das Amt derart mächtig, dass es als „Imperiale Vizepräsidentschaft“ bezeichnet wurde (Montgomery, 2009). Diese Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, Dick Cheney, Vizepräsident von George W. Bush erhielt von diesem derart weitreichende Befugnisse, dass er teilweise während den Anschlägen am elften September 2001 selbst entscheiden durfte, welche Flugzeuge eine Gefahr darstellten und durch die Air Force abgeschossen werden durften (Rosenwald, 2020).
Es ist also nicht unwichtig, wer dieses Amt bekleidet und am fünften November 2024 zum 50. Vizepräsidenten der USA gewählt wird: J.D. Vance von den Republikanern oder der Kandidat der Demokraten, Tim Walz. Denn egal wer gewinnt, der Sieger ist dann „a heartbeat away from the presidency“ (Gunderman, 2023).
- Generell gelten sowohl für das Amt des Präsidenten als auch der Vizepräsidentin immer beide Genus-Formen – außer es wird explizit darauf hingewiesen. Da das sonst für diesen Blog übliche Gendern mit Sternchen in diesem Fall aber nicht praktikabel ist, wird für diesen Text in den meisten Fällen die aktuelle Situation als Grundlage genommen. Für den Präsidenten wird demnach die männliche Form verwendet, für die Vizepräsidentin die weibliche. ↩︎
Bibliographie
- Brower, A. (2021, 20. April). How Walter Mondale revolutionized the vice presidency. CNN.
- Gunderman, R. (2023, 21. September). A Heartbeat Away from the Presidency. Ford Forum.
- Issenberg, S. (2022, 06. Mai). How Same-Sex Marriage Shaped Joe Biden. Politico.
- Montgomery, B. P. (2009). Richard B. Cheney and the Rise of the Imperial Vice Presidency. Praeger.
- Rosenwald, M. S. (2020, 11. September). ‘Take it out’: On 9/11, Cheney’s harrowing orders to shoot down U.S. airliners. Washington Post.
- Shafer, R. G. (2021, 14. Dezember). He thought the vice presidency was useless — until Woodrow Wilson had a stroke. Washington Post.