Wir können nicht gönnen. Oder: Warum Minderheitsmodelle nicht funktionieren
Seit 2019 gibt es keine klassische Mehrheitskoalition im Thüringer Landtag mehr. Rot-Rot-Grün hat sich stattdessen auf das Experiment einer Minderheitskoalition eingelassen, die eine Minderheitsregierung trägt. Für die neue Legislaturperiode hoffen fast alle, dass sie dieses Experiment nicht wiederholen müssen. Weil Minderheitsmodelle an der deutschen Mentalität scheitern.
Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.
von Sebastian Haak
Es gibt ein paar Dinge in der politischen Tradition Deutschlands, die lassen sich einfach und leicht nachvollziehbar erklären. Zum Beispiel der Umstand, dass der deutsche Bundeskanzler viel weniger Macht besitzt als der amerikanische oder der französische Präsident, obwohl auch er Regierungschef ist. Weil: Es ist eine deutsche Lehre aus den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte, dass es keine gute Idee ist, wenn eine einzelne Person in diesem Land eine wirklich große Machtfülle besitzt. Wenn Macht zwischen Regierung, Parlament, Gerichten – und inzwischen auch Medien – geteilt ist, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer, dass sich in Deutschland wieder autoritäre oder gar diktatorische Zustände herausbilden.
Andere Dinge zu erklären, ist dagegen ziemlich kompliziert. Zum Beispiel die Tatsache, dass es in Deutschland nahezu unmöglich ist, erfolgreich eine Minderheitskoalition zu bilden, die eine Minderheitsregierung stützt. Jedenfalls dann nicht, wenn der Maßstab für politischen Erfolg ist, wie die Arbeit dieses Minderheitenmodells in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird; oder bei denen, die selbst als Teil dieses Minderheitsmodells arbeiten.
Eigentlich will niemand wieder eine Minderheitsregierung
Das, was in Thüringen in den vergangenen fünf Jahren passiert ist, liefert einen weiteren, neuerlichen Beweis dafür, dass das so ist: Denn eigentlich niemand will wieder ein Minderheitsmodell versuchen, auch wenn die Umfragen zur diesjährigen Landtagswahl zeigen, dass es wahrscheinlich ist, dass im Freistaat auch nach dem 1. September 2024 wieder damit Politik gemacht werden muss.
Nicht einmal Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ist inzwischen noch ein Verfechter solcher Konzepte. Zwar hat Ramelow in den vergangenen Wochen regelmäßig und wortreich darauf verwiesen, was unter der von ihm geführten Minderheitsregierung alles erreicht worden sei. Mehr als 50 Mal habe sich Rot-Rot-Grün im Landtag entweder mit der oppositionellen CDU oder der noch oppositionelleren FDP oder auch mit beiden politischen Kräften alleine zwischen Mai 2023 und Juni 2024 auf Dinge verständigt, die dann gemeinsam „durchs Ziel gebracht“ worden seien, sagt er.
Dazu gehöre zum Beispiel die Einführung eines Sinnesbehindertengeldes, die Neuwahl des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung des SED-Unrechts, die Wahl eines neuen Datenschutzbeauftragten, die Überarbeitung der Rechtsgrundlage zum Krebsregister des Landes sowie die Verbesserung des Betreuungsschlüssels für Kindergartenkinder.
Die Opposition zieht andere Schlüsse zum Minderheitsmodell
Doch beinahe schon im gleichen Atemzug sagt Ramelow inzwischen auch, die Sache mit der Minderheitsregierung und der Minderheitskoalition sei nichts, was in Deutschland oder Thüringen wirklich zukunftsfähig wäre, „denn eine Minderheitsregierung ist wirklich keine Freunde“. Für die nächste Legislaturperiode strebe er jedenfalls keine Neuauflage dieses Modells, dieses Experiments an. „Und ich würde auch keinem anderen raten, auf eine Minderheitsregierung zu setzen.“
Auch andere Landespolitiker aus Ramelows Partei, aber auch von SPD, Grünen und CDU äußern sich inzwischen so. Nur der Sprecher der FDP-Gruppe im Landtag, Thomas Kemmerich, und natürlich Vertreter der AfD, sehen das anders. Der in Thüringen als erwiesen rechtsextrem eingestuften AfD hat das Minderheitsmodell immerhin eine deutlich größere Gestaltungsmacht gegeben, als eine solche Partei sie gehabt hätte, wenn eine Koalition jenseits der AfD über eine parlamentarische Mehrheit verfügt hätte.
Trotz der Rolle der AfD „als Schmuddelkinder, mit denen keiner spielen möchte“, habe seine Fraktion in den vergangenen Jahren eine große Wirkung erzielt, sagt zum Beispiel parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Landtagsfraktion, Torben Braga. Was richtig ist, wie Ramelow und die Seinen unter anderem erfahren mussten, als CDU, AfD und FDP gegen den Willen von Rot-Rot-Grün ein De-Facto-Verbot von Windrädern in Thüringer Wäldern durchgesetzt haben. Sind die regierungstragenden Fraktionen in der Minderheit, hat eine einige Opposition eben immer die Mehrheit und kann das Land regieren…
Eine typisch deutsche Sicht auf die Welt blickt auf Defizite
Hinter all der grundsätzlichen Ablehnung von Minderheitskonstellationen steht – jenseits all der Mehrarbeit, die solche Modelle bedeuten – eine typisch deutsche Sicht auf die Welt. Eine, die nicht nur politisch Verantwortliche pflegen, sondern auch Millionen Wähler: Anstatt das zu fokussieren, was in den vergangenen Jahren für weite Teile der Bevölkerung erreicht worden ist, schaut man lieber darauf, was einzelne Interessengruppen nicht bekommen haben.
Denn es ist doch so: Wenn in Thüringen in den vergangenen fünf Jahren eine klassische Mehrheitskoalition aus Linke, SPD und Grünen regiert hätte, dann wären in dieser Zeit nur mehr oder weniger klassisch rot-rot-grüne Projekte umgesetzt worden, die einem mehr oder weniger klassisch rot-rot-grünen Klientel zu Gute gekommen wären. Mehr längeres gemeinsames Lernen, mehr Geld für Lastenfahrräder, ein drittes beitragsfreies Kindergartenjahr, Windräder im Wald. Solche Sachen. Zum Beispiel. Das hätte zu viel Verdruss in konservativen oder liberalen Kreisen Thüringens geführt.
Unter den Bedingungen einer Minderheitskoaltion beziehungsweise Minderheitsregierung sind nun zwar weniger solcher rein rot-rot-grüne Ideen umgesetzt worden. Es gibt kein drittes beitragsfreies Kindergartenjahr, etwa. Dafür sind aber ein paar konservative Wünsche Realität geworden, wie eine erneute Stärkung der Förderschulen zum Beispiel. Kein Wind im Wald. Weil Rot-Rot-Grün immer auf die CDU angewiesen war. Rot-Rot-Grüne hat das natürlich weniger jubeln lassen. Dafür aber haben solche Sachen für ein bisschen Freude im Mitte-Rechts-Spektrum der Thüringer Gesellschaft geführt.
Gönnen können statt Frust schieben
Alle Beteiligten und die Menschen, für die sie jeweils Politik machen, könnten sich deshalb nun freuen, dass in den vergangenen Jahren eine insgesamt größere gesellschaftliche Gruppe als in einem herkömmlichen Mehrheitskonstrukt von „der Politik etwas bekommen hat“. Gönnen können… Aber das ist eben ein sehr undeutscher Gedanke.
Stattdessen sind nun alle Beteiligten und auch viele der Menschen, für die sie jeweils Politik machen, vor allem enttäuscht darüber, dass sie aus dem landespolitischen Spiel der Kräfte seit 2019 nicht noch mehr herausholen konnten. Frust schieben… Was wiederum ein sehr deutscher Gedanke ist.
Und solange sich diese Mentalität, in der das Glas immer halbleer statt halbvoll ist, nicht ändert, können Minderheitskoalitionen und Minderheitsregierungen in Deutschland niemals wirklich erfolgreich sein. Nicht im deutschen Verständnis von Politik.
Zum Autor
Sebastian Haak arbeitet seit etwa zwanzig Jahren als freier Journalist in Thüringen. Der promovierte Historiker berichtet insbesondere über die Thüringer Landespolitik. Er schreibt unter anderem für Freies Wort, die Thüringische Landeszeitung und die Deutsche Presse-Agentur.
Foto: ari