Transformationsmüdigkeit
So viel Drastisches passiert und das immer schneller. Was verändert sich, wie kann ich dem folgen und was hat das mit mir und meinem Leben zu tun? Und warum laugt mich aus, was geschieht? Eine Annäherung an den Begriff »Transformation«.
Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.
von Stefan Petermann
Ich bin erschöpft. Ich habe Angst. Ich fühle mich überfordert. Ich schreibe diesen Text wenige Tage nach dem 6. November, der amerikanischen Wahl. Wie soll es möglich sein, die Entwicklungen, die zu diesem Tag führten und das, was sich daraus ergeben könnte, einigermaßen angemessen zu erfassen?
Ich nehme diese Überforderung der Weltenlage auch in meinem Bekanntenkreis, bei Gesprächen, Interviews und Begegnungen wahr. Die Reaktionen auf den Stress der Gegenwart sind vielfältig: Nachrichtenfasten, das Einigeln in Blasen, Resignieren, ein Schimpfen auf die Moderne, das Verneinen von Dingen, die sich verschieben, Wüten, Wählen. Alles Folge der Anforderungen, welche die Jetztzeit an uns stellt, Effekte ihrer Geschwindigkeit, ihrer Komplexität, den sich daraus ergebenden Widersprüchen, in der Summe, so scheint es mir: kollektive Überforderung.
Frakturen, die bis heute wirken
Transformationsmüdigkeit ist ein Begriff, mit dem ein Erklären gelingen soll. Verwendet wird er oft in Bezug auf die Situation Ostdeutschlands. Die Idee dahinter: Die Ostdeutschen hätten mit den Wendejahren und deren Nachgang eine tiefgreifende Transformation erlebt und würden deshalb sensitiver auf die Wiederholung von Veränderungserfahrungen reagieren. So schreibt der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch Ungleich Vereint: »Nachdem man sich schon einmal grundlegend umstellen musste und biografische Halterungen wegbrachen, stemmen sich nun größere Bevölkerungsgruppen stark gegen neue Zumutungen, seien es wachsende Diversität oder die sozialökologische Transformation.«
Dazu lese ich, wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk von einer zweiten Transformationsphase spricht, in der wir uns befinden würden. Ich bin irritiert. Den Begriff Transformation kenne ich eben hauptsächlich in Bezug auf die Wendezeit. Was könnte diese zweite Transformation meinen? Rührt sie aus den Fluchtbewegungen seit 2015 hervor? Bezieht sie sich auf Corona mit all den Auswirkungen aufs wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, mentale Leben? Auf den russischen Angriffskrieg? Der Historiker erklärt, er schreibt von einer »zweiten, nunmehr globalen Transformationsphase, die oftmals verkürzt als digitale Revolution bezeichnet wird.«
Sehnsucht und Veränderung
Aber reicht mir das Digitale als Benennung? Ich frage weiter: Was macht eine Transformation zu einer Transformation? Was unterscheidet sie von Veränderung, die ja immer stattfindet? Ich lese eine Definition: »Unter einer Transformation wird ein grundlegender Wandel verstanden. In gesellschaftlicher Perspektive werden mit dem Begriff sprunghafte Veränderungen in der politischen, wirtschaftlichen oder technologischen Entwicklung beschrieben […] Er kommt erst dann zum Abschluss, wenn sich neue Systemstrukturen dauerhaft etabliert und stabilisiert haben.«
Veränderung ruft Verunsicherung hervor. Das Gefühl fortdauernder Veränderung, die ständig formulierte Notwendigkeit eines Wandels führt zur Ermüdung. So die These. Die Ermüdung ruft Akteure auf den Plan. Sie sagen: »Nicht du musst dich ändern, nein, die Welt muss so bleiben, wie sie war.« Damit sprechen die Akteure aus Politik, Medien und Wirtschaft die Sehnsucht nach einer alten Zeit an, einer Ära, die vermeintlich besser war, weil sie Stabilität geboten hatte.
Diese Sehnsucht wird bewirtschaftet und ausgebaut. Der Einsatz der Simson als Symbolbild einer vergangenen Zeit im Thüringer Wahlkampf ist ein Beispiel dafür. Mit dem Benennen einer »guten, stabilen« Vergangenheit geht oft das Verneinen einher, dass Veränderungen überhaupt stattfinden. Geht einher das Ignorieren von Veränderungsprozessen, dass diese gestaltet werden können und müssen.
KI & Demografie, global & Umwelt
Ich überlege. Was für Veränderungen kommen mir in den Sinn, die in die Kategorie von Transformation fallen könnten? Das schon benannte DIGITALE, ergänzt um die KI und deren Einfluss auf die Arbeitswelt sowie die Art und Weise, wie wir an Informationen gelangen, das Rezipieren von Nachrichten. Mir fällt DEMOGRAFIE ein. Was bedeutet es, wenn ein erheblicher Teil der Menschen alt ist, welche sozialen Infrastrukturen können dann nicht mehr aufrechterhalten werden, gerade in Thüringen, dem Bundesland mit der zweitältesten Bevölkerung Deutschlands?
Ich denke an den 6. November, den vorläufigen Endpunkt einer lang schon währenden Bewegung innerhalb der Weltpolitik; einer NEUORDNUNG GLOBALER SYSTEME, damit verbunden der Niedergang eines westlichen Demokratieverständnisses. Denke daran, dass die Verkettung – Russland liefert billige Energie, mit der deutsche Autos produziert und in China verkauft werden, während die USA das beschützt – spätestens jetzt aufgekündigt ist. Und schließlich, die oft schon benannte, menschengemachte VERÄNDERUNG DES ERDKLIMAS.
Endpunkte
Transformation bedeutet, dass es Endpunkte gibt. Etwas Bisheriges transformiert sich in etwas Anderes. Wie sehen die Endpunkte der genannten Beispiele aus? Sind sie in irgendeiner Weise, in der Form, wie sie sich gerade entwickeln, positiv zu denken? Eine Nachrichtenwelt, die von KI-Bots im Sinn Elon Musks bespielt wird? Ein überaltertes Thüringen? Eine autoritäre Weltordnung mit vereinzelten demokratischen Sprengseln? Eine Transformation unser aller Lebensräume?
Diese Punkte in dieser Verdichtung zu benennen erschöpft mich, macht mich in ihrer Fülle auch mutlos. Wie gehe ich damit um? Auch wenn ich mich in meinem Eigenheim verschanze, in meinem Dorf einbunkere, meine Kanäle so einstelle, dass sie diese Veränderungen ausblenden, geschieht ja dennoch, was geschieht. Der Wald wird braun, das Wasser knapp, meine Arbeitskraft wird nicht mehr gebraucht, das Pflegeheim schließt wegen Personalmangel.
Räume schaffen
Es geschieht und es überfordert mich. Ich kann schreiben: Die Aufgabe von Politik, Medien und Zivilgesellschaft ist es, diese Veränderungen ehrlich zu benennen, machbare Lösungen anzubieten, sie so umzusetzen, dass Lasten gerecht verteilt werden und dabei mit einem optimistischen Stabilitätsversprechen zu kommunizieren.
Aber genügt das, gerade kurzfristig? Sollte es nicht auch darum gehen, dieses Gefühl der Überforderung anzuerkennen, es zu adressieren, Räume zu schaffen, in dem wir uns damit auseinandersetzen können, um die Erschöpfung und die Furcht nicht denen zu überlassen, die sie als Treibstoff für ihre Destruktion und Disruption nehmen?
Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä