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Das Nichtereignis

Am 12. Dezember wurde im Thüringer Landtag der siebte Ministerpräsident des Freistaats gewählt. Die Erwartungen an diesen Tag waren hoch, waren diesem doch komplizierte politische Prozesse vorausgegangen. Was dann geschah, überraschte alle.

Foto: Stefan Petermann

Diese Veröffentlichung im Rahmen des Blogs stellt keine Meinungsäußerungen der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.


von Stefan Petermann

Am Tag der Ministerpräsidentenwahl bin ich vor acht Uhr am Landtag. Frühes Kommen zahlt sich als Medienschaffender aus, weil es dauern kann, bis Einlass gewährt wird; Akkreditierung holen, Sicherheitsschleuse passieren, Technikkontrolle. Zahlreiche Medienleute haben sich angekündigt, das Interesse ist groß. Mit mir treffen Blechbläser am Landtag ein, ihre Instrumente tragen sie bei sich. Um Zutritt zu erlangen, braucht es den Personalausweis. Einer der Blechbläser hat das Dokument nicht sofort parat. Er muss kurz in seinen Taschen danach kramen, bis er den Perso findet. Dann darf er hinein.

Und das ist im Wesentlichen der größte Aufreger des heutigen Tages.

Erwartungen & Bilder

Dabei sind die Erwartungen an diesen 12. Dezember 2024 andere. Der heutige Tag markiert den Endpunkt einer Entwicklung, die im Grunde genommen am 5. Februar 2020 begann. Jeder hat die Bilder im Kopf: 3. Wahlgang, Thomas Kemmerich, Blumenwurf. So knapp vor Corona die Augen der Welt auf Thüringen, der soeben gewählte Ministerpräsident tritt einen Tag nach der Wahl zurück, einen langen Monat herrscht politische Dunkelflaute, die erst mit einer weiteren Ministerpräsidentenwahl beendet wird. Kurz danach beginnt der Lockdown. Die angekündigte Neuwahl des Parlaments findet nicht statt, fast fünf Jahre bleibt die Minderheitsregierung im Amt.

Hinter diesem Tag liegt auch ein Wahlkampf der Extreme; Bundespolitik, welche die Stimmung im Freistaat vor sich hertreibt, eine Regierungspartei, die sich aufspaltet, eine aufgepeitschte Ostalgiewelle, Übergriffe auf Politikerinnen und Politiker. Das führt am Wahlabend dazu, dass man bundesweit die Begriffe »Sperrminorität« und »Brombeer-Koalition« kennenlernt.

Nach dem Wahlkampf geht es ohne Pause in eine komplizierte Regierungsbildung. Dabei stoßen politische Weltbilder aufeinander, die Beteiligten müssen viele Wege in Ortsverbände und nach Berlin gehen, zahlreiche Zugeständnisse an sich und andere machen, um die gewünschte Zusammenarbeit auf Schiene zu bringen. Wieder werden neue Worte gelernt: »Präambel«, »Pflichtenheft«, »3+1«. Im September scheint der durch das Verhalten des Alterspräsidenten ausgelöste Tumult bei der Wahl des Landtagspräsidenten Ouvertüre auf das Kommende zu sein.

Szenarien

An diesem kalten Donnerstag soll das große Finale in der Jürgen-Fuchs-Straße folgen. Die Situation ist: Die sogenannte »Brombeere« hält nur die Hälfte aller Stimmen. Um den dafür vorgesehenen Mario Voigt zum Ministerpräsidenten zu wählen, benötigt es in den ersten beiden Wahlgängen aber die absolute Mehrheit. Und dafür braucht es mindestens eine weitere Stimme, die entweder von DIE LINKE oder der Alternative für Deutschland kommen muss. Diese Notwendigkeit schafft Raum für Szenarien, Paralleluniversen, in denen alle möglichen Leimruten denkbar scheinen. Denn diese 4. Plenarsitzung kennt nur einen TOP: Die Wahl des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringens und gegebenenfalls dessen Vereidigung.

Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat in seinen Überlegungen über das Wesen von Geschehnissen das Ereignis vom Nichtereignis getrennt. Er schreibt: »Es ist das Ultravorhersehbare, das abschreckt, das das Ereignis im Ansatz tötet – im Gegensatz zum radikal Unvorhersehbaren … Vor dem Ereignis ist es zu früh für das Mögliche.« Damit meint er: Es kann kein Ereignis sein, wenn man auf das Ereignis lauert. Und weil sich im Landtag die Kameras in Erwartung auf einen zweiten Blumenwurf aufgebaut haben und schon auf die Stelle zoomen, an denen das Ereignis passieren soll, kann es heute kein Ereignis sein.

Nein, dieser 12.12.2024 gibt das nicht her. Die größte Oppositionspartei lässt den Tag laufen. Thomas Kemmerich sitzt nicht mehr im Landtag. Im Pflichtenheft der Brombeere steht: Nur keine Aufreger. Anders gesagt: Heute geht es sehr schnell über die Bühne.

Ablauf

Was geschieht: Die 4. Plenarsitzung wird durch den Landtagspräsidenten eröffnet. Die Namen der Abgeordneten werden verlesen. Sie treten vor, erhalten ihre Stimmzettel. Sie kreuzen an, werfen die Stimmzettel in die Wahlurne. Die Auszählung erfolgt. Das Ergebnis wird verkündet: Mario Voigt erhält im ersten Wahlgang 51 Ja-Stimmen, 7 Stimmen mehr als im Besitz der Regierungskoalition. Der Landtagspräsident fragt, ob Mario Voigt die Wahl annimmt. Er nimmt an. Damit ist Mario Voigt Ministerpräsident des Freistaats Thüringen, keine Stunde hat es dafür gebraucht.

Die Abgeordneten kommen nach vorn. Sie gratulieren, manche übergeben Präsente; Blumen hauptsächlich, die Vorsitzenden des Thüringer BSWs verschenken einen jungen Brombeerstrauch, der in fünf Jahren wachsen und gedeihen soll, der Vorsitzende der LINKE überreicht den gerahmten Schwur von Buchenwald. Der eben gewählte Ministerpräsident hält eine Rede. Danach ist die 4. Plenarsitzung beendet. Im Gang vor dem Plenarsaal erteilen die Parteivorsitzenden in Interviews Auskunft. Ein Empfang beim Landtagspräsidenten folgt. Begleitet von Medienvertretern übergibt Ministerpräsident a.D. Bodo Ramelow Ministerpräsident Mario Voigt die Staatskanzlei.

Kein Ereignis. Was geschieht, ist ein normaler demokratischer Vorgang. Keine Störung findet statt. Kein Zwischenruf schallt durch den Plenarsaal. Keine Aktion wandert in symbolischen Bildern um die Welt. Die Antrittsrede kommt ohne Zuspitzungen aus. Denn das ist die Botschaft, die der Landtagspräsident in seiner Eröffnung angemahnt hat, die auch später in den Statements der interviewten Politikerinnen und Politiker der meisten Parlamentsparteien geteilt wird: Das Bild, das heute hier geschaffen wird, wird die nächsten Jahre Thüringens prägen. Und dieses Bild soll diesmal bitte kein Aufreger sein. So ist einerseits ein bisschen schaulüsterne Enttäuschung zu spüren, vor allem aber demokratische Erleichterung über das überraschend Ultravorhersehbare. Weil sich damit auch eine Hoffnung verbindet: dass Thüringen zumindest eine Zeit lang ein Nichtereignis sein wird.


Zum Autor
Stefan Petermann hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. 2020 erschien der Reportageband »Jenseits der Perlenkette«, für den er zusammen mit der Filmemacherin Yvonne Andrä in die kleinsten Dörfer Thüringens gereist ist.
Foto: Yvonne Andrä